Die Akte Tellmann

Über 300.000 Menschen wurden von den Nationalsozialisten systematisch ermordet, weil bei ihnen eine körperliche oder geistige/psychische Einschränkung diagnostiziert worden war. Zuvor erlitten sie körperliche Eingriffe, durch die sie sich nicht mehr fortpflanzen oder sexuelle Lust empfinden konnten: Sterilisationen, Kastrationen, Abtreibungen. Zur Legitimation dieser Verbrechen waren Gesetze wie etwa zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ eingeführt worden. Amtlich eingesetzte Pfleger oder Vormünder waren zustimmungspflichtig.

Einer war der Bremer Notar und Anwalt Dr. Arend Tellmann, der als Pfleger für den jungen Arbeiter Johann Meyer aus Oberneuland zuständig war, der unter Schizophrenie gelitten haben soll. Das Erbgesundheitsgericht Bremen hatte am 4. Juni 1935 seine „Unfruchtbarmachung“ angeordnet. Im August 1942 wurde er in die osthessische Tötungsanstalt Hadamar gebracht. Vier Monate später war er tot.

Arend Tellmann, 1894 geboren, hatte 1913 sein Abitur gemacht. Im selben Jahr hatte sich an einer Bremer Schule der erste Amoklauf der Geschichte Deutschlands ereignet, der in der Bevölkerung Entsetzen hervorgerufen hatte: Ein psychisch kranker Mann hatte mit einer Waffe das Feuer eröffnet, fünf Mädchen wurden getötet. Der anstellungslose Lehrer war zuvor geheilt aus einem Sanatorium entlassen worden. Seine Mutter hatte erfolglos versucht, dass er in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde.

Ein Jahr später brach der erste Weltkrieg aus und Tellmann diente volle vier Jahre. Er hatte dafür sein Studium unterbrochen, das er anschließend weiterführte. Sein Referendar-Examen legte er in Celle 1921 mit „ausreichend“ ab; sein Assessor-Examen ebenfalls mit „ausreichend“ in Hamburg; sein Doktor-Examen bestand er schließlich n Göttingen mit „löblich“. Ab 1925 war er als Rechtsanwalt tätig. 1928 erhielt er die Zulassung zum Notar tätig. Kameraden aus Studienzeiten blieb er durch Mitgliedschaften im Altherrenbund der Burschenschaft „Germania“ Marburg und in der Vereinigung der alten Burschenschafter Bremen verbunden.

Der Vermerk über eine Narbe auf seiner linken Wange deutet auf einen Schmiss hin, lange Symbol der Akademiker und narbige Visitenkarte der höheren Gesellschaft. Die Mensur wurde im Zweikampf erworben und mit Stolz getragen. Es kennzeichnete den unerschrockenen Mann, der auch vor bedrohlichen Situationen nicht zurückschreckt.

Arend Tellmann baute eine Anwaltskanzlei mit, zumindest zeitweise, acht Angestellten in der Hollerallee 85 in Bremen-Schwachhausen auf. Neben Rechtsvertretungen, der Übernahme rechtlicher Betreuung als Vormund/Pfleger fungierte er in mindestens einem Fall als Hausverwalter.

Als Leutnant der Reserve hatte er 1935 an einer dreiwöchigen Übung teilgenommen und war nach eigenen Angaben nicht in die Wehrmacht übernommen worden, da er Mitglied eine Loge gewesen war. Neben seinen beruflichen Aktivitäten zeugen Mitgliedschaften in einschlägigen Gruppierungen von einer anhaltend hohen militaristischen Identität, reaktionärem, nationalistischem Gedankengut und eine fortwährende Affinität zu Waffen. So gehörte er der Bremer Jägervereinigung an, dem Deutschen Offiziersbund, dem Freikorps Caspari, dem Reichskolonialbund, Reichskriegebund (Kyffhäuser) und, bis zu dessen Eingliederung in die SA, dem Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten.

Diverse andere Mitgliedschaften wie im Bremer Bürgerparkverein, im Schützenverein, im Verein der Sportsfreunde, im Alpenverein, in der Bremer Eiswette und anderen zeigen, das Tellmann in der Stadt gut vernetzt gewesen war. Durchgängig war er in der NS-Zeit in der Stephani-Gemeinde engagiert, zuletzt als Gemeindeführer und Bauherr.

Um nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bei Gericht als Anwalt zugelassen zu werden, war er 1934 dem NS-Reichswahrerbund beigetreten. Er stellte auch einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP. Angeblich wurde er nicht aufgenommen, weil er der Loge Ölzweig angehört hatte. Auf dem Meldebogen, den er 1947 auszufüllen hatte, behauptet er, dass er den Antrag nur gestellt habe, weil „ich unbedingt mit Ablehnung rechnen musste.“

„Er war ein aggressiver und glühender Nazi.“, hatte ein Geheimdienstmitarbeiter auf einem, ein Jahr zuvor von Arend Tellmann ausgefüllten, Fragebogen notiert, der als Grundlage für sein Entnazifizierungsverfahren diente, denen sich die Mehrzahl aller Deutschen zu unterziehen hatten. Der brisante handschriftliche Hinweis blieb Bestandteil der Unterlagen, aufgrund derer der Senator für politische Befreiung, Alexander Lifschütz am 24. August 1948 Klage erhoben hatte: Tellmann erfülle „klar die Tatbestände“ zur Einstufung als „Belasteter in der Gruppe II“.

War Arend Tellmann ein Nazi, ohne Mitglied in der NSDAP gewesen zu sein? Sein Entnazifizierungsverfahren hatte immerhin mit einem Freispruch geendet. Ende 1948 war er von allen Vorwürfen freigesprochen worden und hatte umgehend seine Arbeitserlaubnis zurückerhalten.

Es erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, dass die Spruchkammer Bremen in nur drei Wochen nach Eingang von Tellmanns 24-seitiger Erwiderung auf die Klageschrift, der er außerdem Schreiben von 20 Leumundszeug:innen zugefügt hatte, zu diesem Ergebnis gekommen war, bzw., dass sie überhaupt und ohne jede weitere Verhandlung zu einem rechtskräftigen Urteil hatte kommen können.

Denn die Vorwürfe der „umfangreichen Beweisaufnahme“ hatten schwer gewogen: Neben seinen Mitgliedschaften im Stahlhelm, im Freicorps Caspari und NS-Reichkriegerbund habe er als Führer einer Volkssturm-Einheit noch beim Einmarsch der Alliierten in Bremen 1945 zum Widerstand aufgefordert; unter seiner Leitung seien Straßensperren in der Schwachhauser Heerstraße errichtet worden. Auch habe er den Pastor der St. Stephani-Gemeinde, Dr. Gustav Greiffenhagen, Pazifist und Gegner der Nationalsozialisten, denunziert, der dann suspendiert worden sei. In einer mündlichen Verhandlung sollte unter anderem festgestellt werden, ob er auch an der Aburteilung eines Hilfspredigers beteiligt gewesen war.

Eine Einstufung als „Belasteter“ hätte für Arend Tellmann verheerende Folgen gehabt. Als „Belastete“ galten Aktivisten, Nutznießer und Militaristen der NS-Verbrecher. Außer dem Ansehensverlust, dem voraussichtlichen Ende seiner juristischen Laufbahn hätten ihm auch Haft oder Arbeitslager drohen und etwaige Widergutmachungsansprüche gegen ihn hätten womöglich geltend gemacht werden können. Solange das Verfahren lief, hatte er ein Arbeitsverbot.

Der zu diesem Zeitpunkt 53-jährige Jurist zeigte allerdings, dass er sich den Schmiss aus Studienzeiten wirklich verdient hatte: Unerschrocken und angriffslustig hatte in seiner umfangreichen Klageerwiderung eine Behauptung nach der anderen zu Papier gebracht, ohne dass er Beweise dafür lieferte. Die Stellungnahmen der Leumünder bescheinigten ihm keinerlei Nähe zu den Nazis, eine große Vaterlandsliebe, ein ausgleichendes Wesen und mehr. Unter ihnen waren Freunde, Jagdkumpel, ein Justizmitarbeiter, frühere Angestellte, ein Mitglied der Loge Ölzweig –  und die Witwe eines Mannes, der im KZ erschossen worden war. Auch sie war zeitweise im KZ gewesen. Ihre Worte dürften bei den Mitgliedern der Spruchkammer besonders wirkungsvoll gewesen sein.

Maria Weihkopf hatte Arend Tellmann als Verwalter ihres Hauses gekannt, in dem sie und ihr Mann Ludwig zwei Wohnungen untervermietet hatten. Auch Tellmann verweist in seiner Erwiderung darauf, dass er die „politisch stark verfolgte Familie Weihkopf aus Überzeugung nach all meinen Kräften vertreten habe.“ Eine Gegenrecherche hat einen damit nicht im Einklang stehenden Sachverhalt ergeben: Ludwig Weihkopf hatte als schwieriger Vermieter gegolten, der schließlich von einem SA-Mann bei der Gestapo denunziert worden war. Er kam ins KZ Sachsenhausen und soll dort nicht eschossen, sondern an Magenkrebs gestorben sein. Anwaltlich wurde Ludwig Wéihkopf er auch nicht von Arend Tellmann vertreten, soweit bekannt. Seine Frau hatte auch nicht Maria geheißen, sondern Minna. Ludwig Weihkopf war allerdings wie Tellmann Mitglied im Stahlhelm gewesen.

Arend Tellmann fühlte sich möglicherweise sicher, dass er aufgrund seiner guten Verbindungen in die Bremer Gesellschaft hinein die damals stark überlastete Justiz mit Persilscheinen und einer eindrucksvollen Erwiderung überzeugen würde, von einem wie ihm Abstand zu nehmen.

Bereits 1947, ein Jahr vor der Klageerhebung, hatte sich schon die Hanseatische Rechtsanwaltskammer mit einem dringenden Gesuch beim zuständigen Senator für die dringende Wiederzulassung Tellmanns als Rechtsanwalt und Notar eingesetzt. Außerdem hatte Tellmann gleich zwei Anwälte engagiert: Einen, um weitere Vorwürfe zu entkräften und einen, an den Post und Anfragen zu richten seien, da er sich in einem Sanatorium befinden würde.

Einen Tag vor Heiligabend sprach die Spruchkammer Bremen Arend Tellmann frei. Es gäbe keine Beweise, dass er zum Widerstand aufgefordert habe; seine Mitgliedschaften seien nicht als Belastungen anzusehen, sein Amt als Kirchenvorstand hätte er nicht in diktatorischer Weise ausgeübt. Zurück aus dem Sanatorium hatte der Jurist umgehend, am 11. Januar des neuen Jahres, seine Arbeitserlaubnis beantragt. Die überlastete Justiz stellte ihm innerhalb eines Tages die Wiederzulassung aus.

Warum war er so zügig freigesprochen worden? Warum hatten die Vorwürfe die Klageschrift keine Relevanz mehr, zumal Tellmanns Erwiderung zu einem guten Teil aus relativierenden, nebensächlichen, unbewiesenen und sogar unzutreffenden Behauptungen bestanden hatte? Allein seine Mitgliedschaft im Stahlhelm und sein Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP wären ausreichend Anlass gewesen, sich eingehender mit der Rolle und den Handlungen des Juristen während der NS-Zeit zu befassen.

Dass ihm die Aufnahme in die NSDAP 1935 verweigert worden war, dürfte vor allem daran gelegen haben, weil es seit April 1933 einen Aufnahmesperre gegeben hatte, für die es nur exklusive Ausnahmen gegeben hatte, deren Kriterien auf Tellmann nicht zugetroffen hatten. Die Sperre hatte bis 1937 fortbestanden und war erst 1939 vollständig aufgehoben worden. Außerdem war Tellmann bereits 1934 aus der Loge ausgetreten, um Mitglied des NS-Reichswahrerbundes zu werden, „da ich ohne Aufnahme in BNSDJ nicht praktizieren konnte…“.

Um seine Distanz zur NSDAP zu verdeutlichen, hatte er sich zudem als „positiver Christ“, beschrieben. Er sei stets nur religiös motiviert gewesen und hätte nur für den Erhalt seiner Gemeinde gewirkt; Parteipolitik hätte ihn nicht interessiert. Der Teufel liegt – mal wieder – im Detail: „Positiver Christ“ ist ein ureigenes Nazi-Schlagwort und nicht religiös, sondern völkisch-rassisch orientiert.

1934 war Tellmann zum Gemeindeführer der St. Stephani-Gemeinde ernannt worden und Mitglied des Kirchentages. Nachdem die Bremische Evangelische Kirche in die Deutsche Evangelische Kirche eingegliedert und somit gleichgeschaltet worden war, blieb er bis 1937 Mitglied des Kirchenausschusses.

Im selben Jahr hatte sich Dr. Gustav Greiffenhagen, Pastor bei St. Stephani, der Bekennenden Kirche angeschlossen. Greiffenhagen, schildert Tellmann recht emotional in seiner Erwiderung, habe eigenmächtig versucht, die Gemeinde dorthin überzuführen. Die Bekennende Kirche sei eine kirchenpolitische Partei, schrieb er, Pastor Greiffenhagen hätte zu deren radikalen Flügel gehört: „In stundenlangen, teilweise bis in die Nacht hineingehenden Debatten kämpften seinerzeit der alte Kirchenvorstand und ich mit Herrn Pastor Greiffenhagen und einigen seiner Anhänger um die Geschlossenheit der Gemeinde.“ Beweise und Fakten könne er nicht liefern: Die Unterlagen und auch sein gesamtes Aktenmaterial darüber seien vernichtet. Außerdem habe die Gestapo bereits vor seinen Schreiben Kenntnis von Greiffenhagens Aktivitäten gehabt. Die Auseinandersetzungen hätten sich auf rein kirchlichem Gebiet bewegt. Niemand hätte etwas mit Partei- oder Kirchenpolitik zu tun haben wollen. Er habe außerdem gegenüber dem Landesbischof Weidemann stets klar gemacht, dass er eine gegensätzliche Einstellung der von Weidemann repräsentierten Kirchenregierung habe und er lediglich verwaltungsmäßig mit der Kirchenregierung zusammenarbeite.

Das ist nur die halbe Wahrheit: Dr. Gustav Greiffenhagen war seit 1931 Pastor bei St. Stephani gewesen, hatte dem NS-Regime als Pazifist ablehnend gegenübergestanden. Nach seiner Beteiligung an der Bekennenden Kirche war er durch die SA eingeschüchtert und mehrfach durch die Gestapo verhaftet und verhört worden, und war sehrwohl zeitweise suspendiert gewesen. Geschützt wurde er von Tellmann damals nicht. Stattdessen legitimierte er als “Gemeindeführer” die Gleichschaltung der Kirche.

Tellman relativiert auch seine Beteiligung am Volkssturm: Dort habe er nur Befehlen gehorcht und seine Pflicht erfüllt, führte er in einer detailreich erzählten Geschichte über die Ereignisse des betreffenden Tages aus. „Auch ich bin wie viele andere Schicksalsgenossen zum Volkssturm einberufen worden.“ Führer oder Leiter des Barrikadenbaus sei er nicht gewesen. Als Zeugen führt er einen Rechtsanwalts- und Notarskollegen namens Dr. Storch an. Der Spruchkammer war es aber offenbar nicht eingefallen, Storch als Zeugen zu laden.

Und selbst mit der Verwendung von Grußfloskeln versucht er seine Distanz zum NS-Regime zu belegen: Briefe seiner Kanzlei seien auf seine Anweisung hin zunächst nur „Mit deutschen Gruß“ unterzeichnet gewesen waren. Erst „als immer mehr auf den Gebrauch des Grußes ,Heil Hitler‘ … in den Behördenzimmern gedrängt wurde, blieb uns nichts anderes übrig …“ Ob ihm das jemand als mutige Entscheidung abgenommen hatte? Der „Deutsche Gruß“ ist ebenso eine Nazi-Floskel und -Geste wie „Heil Hitler“.

Zu seiner Stahlhelm-Identität macht er keine Ausführungen. Möglicherweise hatte er kalkuliert, dass diese Mitgliedschaft nicht relevant werden würde, da der Stahlhelm 1935 in die SA integriert worden war. Doch hatte diese Truppe eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der NSDAP und war mitverantwortlich für die Machtübernahme Hitlers gewesen: Die gewaltbereite paramilitärische Vereinigung stand in offener Konkurrenz zur NSDAP. Ihre Mitglieder hatten sich als „deutsche Faschisten“ bezeichnet: Stramm antidemokratisch, rassistisch, antisemitisch. 1929 hatte der Soldatenverbund an der Organisierung eines Volksentscheids gegen den Young-Plan teilgenommen und 1931 an Aufmärschen mitgewirkt, um das Kabinett und Reichskanzler Heinrich Brüning zu stürzen. Stahlhelm-Gründer Franz Seldte war zudem NSDAP-Mitglied, SA-Obergruppenführer und bis 1945 Reichsarbeitsminister gewesen.

Doch das alles hatte für die Spruchkammer offenbar ebenso wenig Relevanz wie Tellmanns Mitgliedschaft im Freikorps Caspari. Die aus mehreren hundert kampferprobten Bürgersöhnen bestehende paramilitärische Vereinigung hatte bei der Niederschlagung der Bremer Räterepublik 1919 ein Schlüsselrolle inne, bei der es viele Tote gegeben hatte, wenn auch Tellmann erst ein paar Jahre später dazu gekommen war. Er wird sich in diesen Kreisen wohl gefühlt haben.

Tellmann schließt seine Ausführung mit der dreisten Behauptung, dass die Beweislast beim öffentlichen Kläger läge und der Akte nichts beiliege, das die Klage rechtfertigen könnte. Doch die Vorgaben des Befreiungsgesetzes waren genau andersrum: Die Beweislast hatte bei ihm gelegen. Doch auch das schien die Kammer nicht interessiert zu haben.

Die Richter und Richterinnen hatten sich offenbar vielmehr zurückgelehnt und von der, kraft des 4. Änderungsgesetzes zum Befreiungsgesetz, Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Akte Tellmann im Schnellverfahren zu schließen. Und da Tellmann weder NSDAP, Gestapo, SS oder SD angehört hatte, hatte die Militärregierung noch nicht einmal zustimmen müssen.

Tellmann war kein Einzelfall gewesen. Der Historiker Hans Hesse stellt in seinem Buch „Konstruktion der Unschuld“ über die Entnazifizierung in Bremen und Bremerhaven fest: „Während der Entnazifizierung ereignete sich die Entschuldung schwer und schwerstbelasteter Nationalsozialisten zehntausendfach.“ Bremen sei nur ein Beispiel dafür, dass die Entnazifizierung in Deutschland weitgehend gescheitert sei.

Warum die Verfahren sich überhaupt so lange hingezogen hatten, schildert der pensionierte Bremer Lehrer und Historiker Arndt Frommann, der auf diesem Gebiet ebenfalls geforscht und das Buch „Die Geschichte der Bremer Eiswette“ herausgegeben hat: Das habe einerseits daran gelegen, dass in Bremen das „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ erst am 9. Mai 1947 in Kraft getreten war und andererseits dem Umstand geschuldet gewesen sei, dass viele Betroffene so lange Widerspruch gegen ihre „Klassifizierung“ einlegt hätten, bis sie den angestrebten Status des „Entlasteten“ oder des „Nicht Betroffenen“ erhalten hatten. Frommann hatte als bislang Einziger in seinem Buch bereits über die Gesinnung Tellmanns, die durch seine diversen Mitgliedschaften offenbar waren, veröffentlicht.

In der Bevölkerung hatte es damals keine große Neigung gegeben, die Entnazifizierungen zu unterstützen – im Gegenteil: „Die Bevölkerung stand der Sache gleichgültig, zurückhaltend, vielfach ablehnend gegenüber.“, schreibt etwa Adalbert Rückerl 1982 in seinem Buch „NS-Verbrechen vor Gericht, Versuch einer Vergangenheitsbewältigung“. Der damalige Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen verstieg sich 1949 sogar darauf, die Entnazifizierung als „allmählich unerträglich“ zu bezeichnen, sie mit der Judenverfolgung gleichzusetzen und die Befreier von Hitler-Regime zu beleidigen: „Wir haben den Nazis keine Judensterne angeheftet. Methoden dauernder Entrechtung und Einstufung von Menschen in eine minderwertige Klasse verstoßen gegen die Menschenrechte, zu denen sich die Amerikaner ja bekennen.”

Ehrenamtlich hatte Tellmann bereits 1946 wieder einen ersten verantwortungsvollen Posten. Statt Kirchenvorstandsposten wechselte in die Verbandsstrukturen der grünen Zunft, und hatte sich zum Vorsitzenden der neugegründeten Bremer Kreisgruppe wählen lassen, der Vorläuferin des Landesjagdverbandes Bremen. Die amerikanische Militärregierung hatte unter Hinweis seiner einschlägigen Mitgliedschaften und der handschriftlichen Bemerkung „Er war ein aggressiver und glühender Nazi.“ zwar empfohlen, Persönlichkeiten zu ernennen, deren Anschauungen antinazistisch und prodemokratisch seien. Die Waidmänner hatten es wohl dennoch als unproblematisch angesehen, einen ungeläuterten Militaristen und deutschen Faschisten zu ihrem Repräsentanten zu machen.

Durch das neue Bundesjagdgesetz waren in den 1950er Jahren außerdem weitere Posten zu vergeben. Tellmann stand bereit: Er wurde zum Landesjägermeister ernannt und in Personalunion Präsident der Bremer Landesjägervereinigung. Von 1960 bis 1963 war er Präsident des Deutschen Jagdverbandes. Er publizierte zwei Bücher, die sich mit dem Landjagdrechten in Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Berlin befassten.

Die Jägerschaft hatte Arend Tellmann wirklich viel zu verdanken. Und so wird er auf der Website der Landesjägerschaft Bremen e.V. bis heute gewürdigt. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 wird unter dem Menüpunkt Geschichte hingegen völlig ausgeblendet. Eine Anfrage dazu an den heutigen Präsidenten der Landesjägerschaft Bremen e.V. im Rahmen der Recherche zu diesem Text im April 2024 ist bis heute unbeantwortet geblieben.

Screenshot Website

Dabei hätte zum Beispiel folgender Hinweis sicherlich nicht weh getan: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Befreier vom NS-Regime allen Deutschen die Jagd zunächst verboten und alle auffindbaren Schusswaffen eingezogen. Jagen war in der Nachkriegszeit nur den Besatzungssoldaten gestattet gewesen. Es gab heftige Auseinandersetzungen um die künftige Ausrichtung der Jagd, weil das Reichsjagdgesetz im Wesentlichen fortgeschrieben werden sollte und Jagdfunktionäre aus der NS-Zeit wieder implementiert worden waren. Letztlich hatten sich deren Befürworter durchgesetzt.

1953 berichtete die Lokalpresse anlässlich von Tellmanns Ernennung zum Landesjägermeister: … „Seine waidmännische Karriere begann 1917 im Niemandsland der deutsch-französischen Front als sehr riskantes, aber notwendiges Vergnügen zur Bereicherung des Küchenzettels.“…
Zu seinem 65. Geburtstag 1959 adelte die Presse seine Expertise: „Er ist die oft zitierte letzte Instanz in Jagdfragen und ehrenamtlicher Berater der Bremischen Behörden auf diesem Gebiet. … Seinen Geburtstag begeht er in seiner Jagdhütte in der Lüneburger Heide.“ Und sie zitiert ihn mit „Der Schuss ist nur unvermeidliches und manchmal sogar bitteres Ende bei der Jagdausübung.“

Arend Tellmann starb 1964 mit 70 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls. In einem Nachruf bezeichnet in der „Weser Kurier“ am 18. Dezmeber 1964 als „eine der markantesten Persönlichkeiten der Hansestadt“ und würdigte ihn als „Vater des Jagdgesetzes“. „Eine große Liebe zur Natur und zu den Tieren“ sei „die Triebfeder seines unermüdlichen Wirkens“ gewesen.

Arend Tellmann war wohl kein Nationalsozialist. Er wäre aber gern einer geworden. Er hatte sich mit dem NS-Regime arrangiert, obwohl sein Herz für viel nationalkonservativere Vorstellungen geschlagen hatte, in denen Parlamente und gewählte Regierungen nicht vorkamen, sondern ein Kaiser mit einer starken Armee herrscht.

Johann Meyer wird Arend Tellmann wahrscheinlich nie kennengerlent haben. Er hätte ihn durchaus aus Hadamar herausholen können, wie es Minna Weihkopf mit ihrem schwerstbehinderten Sohn Theodor gemacht und ihm dadurch das Leben gerettet hatte. Wie oft Tellmann als Vormund und Rechtspfleger für Menschen benannt wurde, die trotz oder wegen Opfer der Krankenmorden geworden waren, und denen er nicht geholfen hatte, ließ sich nicht ermitteln.


Hinweis und Quellen: Der Text wird fortlaufend mit Links und Nachweisen ergänzt. Die Informationen über das Entnazifizierungsverfahren stammen aus seiner Akte, die im Bremer Staatsarchiv der Öffentlichkeit zur Einsicht zur Verfügung steht. Ebenso die Abbildungen,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert