Sexuelle und reproduktive Gesundheit für schwangere geflüchtete Frauen

Das Modellprojekt Fachdialognetz hat Mitte Juli 2017 seine Arbeit aufgenommen. Ein Bericht vom Hamburger Standort

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Seit 1. Mai arbeitet Kerstin Erl-Hegel für pro familia Hamburg. Davor war die 54-jährige Sozialarbeiterin im Jugendamt tätig, leitete 14 Jahre lang die Elternschule am Grindel. Über zwei Jahre wird sie ein Fachdialognetz entwickeln, das Fachleuten und ehrenamtlich Engagierten helfen soll, schwangere geflüchtete Frauen besser zu unterstützen. Sie baut zusammen mit sieben weiteren Fachkoordinator*innen – die an anderen pro-familia- Standorten bundesweit tätig sind – eine Datenbank auf, die Expertinnen und Experten sowie lokale Beratungsangebote und Einrichtungen mit ihren Kompetenzen listen wird.

Eine Wissensplattform, die künftig schnellere Hilfe ermöglicht. Erl-Hegels Meinung nach ist pro familia optimal für das Modellprojekt geeignet: „Es wird viel zu wenig auf sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte geachtet, bei geflüchteten Frauen sowieso“, sagt sie. „bei pro familia ist das ein programmatischer Bestandteil der Arbeit.“
Gerade hat sie eine neue Organisation eingepflegt: der Verein Hanseatic Help steht nun in der Datenbank. Er entstand 2015 während der großen Zuwanderung aus der Idee heraus, eine Kleiderkammer anzubieten. Tausende Hamburgerinnen und Hamburger pilgerten damals in die Messehallen und gaben Kleiderspenden für die tausenden Menschen ab, die ihre lebensgefährliche Reise aus Syrien, Afghanistan oder Ghana hinter sich gebracht hatten. Es waren mehrheitlich junge Männer, aber auch viele Frauen und Kinder – und Schwangere. Die riesige Kleiderkammer wurde institutionalisiert, hilft bis heute bedürftigen Menschen. „Es wird dort ja auch Umstandskleidung gesammelt“, sagt Kerstin Erl-Hegel, „also ein ganz wichtiges Angebot für schwangere Frauen.“

Schwangere Geflüchtete gab natürlich auch schon vor 2015. Doch das Hilfe- und Gesundheitssystem ist mit den vielen Menschen, die vor zwei Jahren mit einem Mal in
Deutschland ankamen, auch überfordert gewesen. Zwar war die Hilfsbereitschaft groß, aber das sozialarbeiterische Fachwissen oft nicht vorhanden, schwangere Frauen gut und richtig zu beraten, resümiert Erl-Hegel. Der Hebammennotstand käme hinzu: Schwangere in Deutschland haben seit Jahren allergrößte Probleme, eine Hebammen zu finden, die sie vor und nach der Geburt betreut. Hebammen und Gynäkolog*innen halten zwar Sprechstunden in Erstaufnahmeeinrichtungen ab, wie die Organisation Women’s Health Team aus St. Georg oder die Nestlotsen in Nettelnburg, aber in Folgeunterkünften oder eigenen Wohnungen werden schwangere Frauen kaum noch erreicht, berichtet die Fachkoordinatorin. Sie seien mit ihren Fragen und Sorgen allein.

Kerstin Erl-Hegel umreißt die spezifische Problematik von schwangeren Geflüchteten: „Sie haben oft traumatische Erfahrungen auf der Flucht gemacht, erlebten Gewalt, haben eine spezielle Scham, sind über die Vorgänge in ihrem Körper und die bevorstehen Geburt auch kaum aufgeklärt. So könne ein gynäkologischer Stuhl erst einmal auch Angst erzeugen. Bei Frauen, denen die Genitalien beschnitten wurden, seien zudem eine Reihe von Fragen abzuklären: Muss ein Kaiserschnitt eingeplant werden oder kann die Vagina noch vor der Geburt so wieder hergestellt werden, dass eine normale Entbindung möglich ist? Und wie begleitet man eine Frau psychosozial, deren Ungeborenes eventuell bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde?“

Bei Helferinnen und Helfern fehlt dieses Wissen oft ebenso. Dazu kommen mangelnde kultursensible Kenntnisse: Wie geht es den Frauen in den verschiedenen Ländern? Der größte Fehler, der gemacht werden kann, sagt Erl-Hegel, sei, die Hände über den Kopf zusammenzuschlagen. Das helfe den Frauen überhaupt nicht.

Unpassend sei auch der Ansatz, davon auszugehen, dass bei uns in Deutschland alles gut sei und in anderen, nicht so gut. Augenhöhe sei wichtig und Einfühlungsvermögen. Fortbildungen, die einen akzeptierenden Ansatz vermitteln, seien daher in der Datenbank sehr willkommen. So bietet beispielsweise der SkF Altona einmal im Monat einen Crashkurs an, der „Deutsch rund um die Geburt“ vermittelt: So kann sich eine Gebärende während der Entbindung mit dem Team im Kreißsaal auch verständigen – und umgekehrt.

Kerstin Erl-Hegel pflegt nicht nur Datensätze ein. Sie geht raus, schaut sich Beratungsstellen und Aufnahmeeinrichtungen an, spricht mit den Leuten. So bekommt sie ein umfassendes Bild. „In der EAE Schmiedekoppel sind von 800 Menschen, die dort leben, etwa zehn Prozent schwangere Frauen. Jeden Montagmorgen bieten dort für zwei Stunden Familienhebammen der Frühen Hilfen Eimsbüttel eine Sprechstunde an. In der Elternschule Niendorf können Ratsuchende jeden Dienstagmorgen vorbeischauen und sich bei Fragen zu Geburt, Baby und Schwangerschaft beraten lassen. Mütter und Kinder können dort auch untersucht werden.

Die Sozialarbeiterin will auch selbst Fortbildungen anbieten. Für den 22. November hat sie den Gynäkologen und Medizin-Coach Dr. Helmut Jäger nach Hamburg eingeladen, der praktisches Wissen vermittelt, wie man mit schwangeren geflüchteten Frauen auch nonverbal kommuniziert – beispielsweise während der Geburt.

Das Modellprojekt ist auf zwei Jahre angelegt und wird von dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert.
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Kersten Artus ist Journalistin und stellvertretende Vorsitzende von pro familia Hamburg

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