Unter Wasser

Eine Stilkritik

Als sich bei den frühen Lebewesen aus Flossen Beine entwickelten und aus Kiemen Lungen und sie an Land gingen, um zu laufen und zu atmen, konnten sie nicht ahnen, dass einige ihrer Nachfahren das Schwimmen verlernen würden. Der Mensch und seine affigen Verwandten sind die einzigen Säugetiere, die nicht schwimmen können, wenn sie auf die Welt kommen. Giraffen können es auch nicht, in Anbetracht ihrer Körperform ist es nicht verwunderlich.

Warum können also ausgerechnet Menschen und Affen nicht schwimmen? Warum nicht auch Elefant, Hase, Hund, Katze, Maus? Warum gleiten Otter und Pinguin elegant durchs Wasser, der Mensch aber muss mühsam lernen, Arme und Beine so synchron zu bewegen, damit er nicht ersäuft? Was dachte sich die Evolution dabei, dem Menschen nicht nur das Fliegen sondern auch das Schwimmen zu verwehren – aber jede Hummel abheben und selbst ein Nilpferd schwimmen kann?

Wenn ich ins Becken steige und meine Bahnen ziehe, habe ich viel Zeit, über diese und andere Fragen nachzudenken. Ich kann gut schwimmen, habe es als Kind im Verein gelernt und mich im Leistungsschwimmen versucht. Das Tempo ist über die Jahre verloren gegangen, nicht aber der Stil: Den Körper ausbalancieren, beidseitig mit dem Dreierzug ausatmen. Atmen, überhaupt das Wichtigste. Ich entspanne mich beim Schwimmen. Ich möchte es zumindest. Ich möchte mich gleitend und schwerelos bewegen, der Alltag bleibt im Trockenen. Ich will nur das Blubbern aus meinem Mund hören.

An dieser Stelle komme ich mit dem Text nicht weiter. Denn wie soll ich gelassen, flüssig, pointiert und ein wenig humorvoll beschreiben, was mich manchmal wahnsinnig macht? Wie soll ich es darstellen, wenn Frauen paarweise neben mir durchs Wasser krawandern, die Köpfe hochgereckt damit die Haare nicht nass werden, schwatzend und kichernd in meine Bahnen geraten? Wie soll ich es aufschreiben, welch ein Trauerspiel viele Männer, aber auch Frauen unter Wasser darstellen, weil ihre Badehosen wie Schlafanzug-Shorts aussehen, entweder zu weit oder zu eng und mit Badeanzüge bekleidet, bei denen ich mich frage, wer sich diese Muster und Schnitte einfallen lässt?

Ich sehe unter Wasser Tattoos, dicke Bäuche, watende Füße, zappelnde Kinderbeine. Menschen hängen an den Rändern des Schwimmbades, oft genau da, wo ich anschlagen möchte, um mich für die nächste Bahn abzustoßen. Männerkörper peitschen durchs Wasser, als wenn sie für Olympia trainieren und rammen, wer nicht schnell genug flüchten kann. Rücksichtslosigkeit ist eine harmlose Bezeichnung dafür.

Es gibt im Außenbecken des Kaifu-Bades einen abgetrennten Bereich für Schnellschwimmende. Da flügen und schnaufen sie und machen mit allem, was das Repertoire des männlichen Dominanzgehabes zur Verfügung hat, klar, dass das ihre Bahn ist. Neulich schimpfte eine Mitschwimmende über einen dieser Turbokrauler, laut über das Wasser hinweg, nachdem er sie geschnitten und angestoßen hatte. Wer es nicht hörte: Der Turbokrauler. Wer es hörte: Alle anderen. Ich schwimme da auch oft, breche aber genauso oft auch ab und wechsle auf die andere Seite. Oder gehe ins Hallenbad. Da ist es chaotischer, aber friedlich.

Ich bin halbschnell. Ich gehöre nicht richtig auf die Schnellschwimmbahn und nicht richtig auf die andere Seite, wo hochgereckte, schwatzende Köpfe und Bäuche in Rückenlage querfeldein durchs Wasser grätschen. Ich möchte eine dritte Bahn. Wo Frauen schwimmen können und aufmerksame Männer sowie alle anderen Geschlechtsidentitäten, die die Bahn halten können und das Schwimmsen einigermaßen beherrschen. Zieht an, was Ihr wollt. Dann könnte ich kraulen, blubbern, schauen, entspannen und nach einer halben Stunde aus dem Wasser steigen und einfach nur glücklich sein. Glücklich im Nass, das ist meine Sehnsucht.

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