Rezension „Trauer und Sexualität“, pro familia Magazin 1/25
Tod und Humor passen gut zusammen: In den „tot, aber lustig“-Cartoons beispielsweise führt ein schwarzer Kapuzenumhang mit Sense in der Hand folgenden Dialog mit seinem Gegenüber: „Zigarette?“ – „Danke, aber ich rauche nicht“ – „Letzte Chance!“; Oder er ruft im Altersheim, triumphierend die Sense hochhaltend: „Last Christmas!“
Gibt es Vergleichbares zu Trauer und Sexualität? „Das sind vernachlässigte und regelrecht tabuisierte und verborgene Themen. Erst recht, wenn sie miteinander kombiniert werden. “, sagen die Psychologin Nicki Ermer sowie die Sexualwissenschaftlerinnen Nora Lynch und Annika Pehle, die außerdem als Bestatterin tätig ist. Beides wurde in den letzten 50 Jahren überwiegend getrennt beforscht, stellen sie fest. Die wissenschaftliche Datenlage sei daher bislang äußerst dünn, der Forschungsstand überschaubar.
In ihrem Buch „Trauer und Sexualität“ legt das Autorinnenkollektiv dar, warum das so ist und welche Schwierigkeiten dadurch entstehen. Sie geben einen gründlichen und nachvollziehbaren Überblick über die Ursachen des Tabus, thematisieren Trauermodelle und -normen. Zu Wort kommen Trauernde sowie Fachleute für Abschied/Trauer und Sexualwissenschaft/Therapeutik. Es ist erhellend, wie unterschiedlich selbst Expert:innen darüber denken, interpretieren und tabuisieren.
Dabei desorientiert ein Verlust wie der Tod eines nahen Menschen nicht nur das emotionale, spirituelle und soziale Gleichgewicht, sondern auch das körperliche massiv. Das Tabu erschwert, dass sich die Balance wieder einstellt. „Von unserer Gesellschaft wird die Sexualität von Trauernden häufig als etwas Schwieriges oder Problematisches angesehen. Dadurch empfinden sie oftmals Scham und Schuld, wenn sie entsprechende Bedürfnisse bei sich wahrnehmen.“, sagen Lynch, Pehle und Ermer. Hinzu komme, dass Trauerfeiern und Beerdigungen häufig auf das Nötigste und einen kleinen Kreis von Angehörigen beschränkt würden.
Bisherige Erkenntnisse zeigen unter anderem unterschiedliche sexuelle Bedürfnislagen von Trauernden auf – nach Alter, kulturellen Werte, Todesumständen, Sexus. In der ersten Zeit nach einem Verlust weichen sie besonders stark voneinander ab. Auch wirkt sich aus, ob ein Paar über die Zukunft der weiterlebenden Person gesprochen hatte. Sexualität war für explizit für Witwen lange gesetzlich reglementiert und verselbstständigte sich als geschlechtsloses Trauerjahr: Das BGB von 1886 setzte Frauen eine Zehn-Monats-Frist für eine neue Heirat. Das römische Recht untersagte ihnen für denselben Zeitraum sogar jegliche Sexualkontakte.
Prof:in Dr:in Maika Böhm von der Hochschule Merseburg hat die Masterarbeiten von Lynch und Pehle in ihrem Studiengang Sexualwissenschaften und Familienplanung begleitet und zu dem Buch motiviert. Auch sie findet, dass sich mit der Verbindung von Abschied/Trauer und Intimität/Sexualität in der fachlichen Praxis der sexuellen Bildung bislang wenig befasst wurde. Sie empfiehlt, dass Expert:innen, die mit Trauernden arbeiten, das Thema aufgreifen sollten.
Trauer ist ein Anpassungsprozess an neue Wirklichkeiten. Sexualität, Intimität und Körperlichkeit von Trauernden gehört dazu. Bleibt ihr Wunsch nach Austausch und Information unerfüllt, leiden Wohlbefinden und Lebensqualität.
__________________________________________________________________
„Trauer und Sexualität“ von Nora Lynch, Annika Pehle, Nicki Ermer.
© 2024, Psychosozial-Verlag, Band 39, 135 Seiten, 22,90€