Johann Meyer war Arbeiter. Er wurde im hessischen Hadamar in einer der Tötungsanstalten der Nationalsozialisten ermordet. Sie waren neben den KZs strategisch eingerichtete Orte, an denen in der NS-Zeit Massenmorde durchgeführt worden waren..
Der Oberneulander Johann Meyer war eines von über 300.000 Opfern planmäßiger Krankenmorde. Denn behinderte und psychisch Erkrankte galten bei den Nazis als „unwertes Leben“. Zuvor wurden sie meist durch Sterilisationen verstümmelt.
Für Johann gibt es nun ein Stolperstein. Er wurde in der Apfelallee 4 in Bremen-Oberneuland in den Bürgersteig eingelassen. Dort war er geboren worden und aufgewachsen. Zwei Häuser weiter, Apfelallee 8, wurde zeitgleich ein Stolperstein für Betty Denker verlegt, die im niedersächsischen Wehnen ermordet worden war.
Bereits ab 1940 waren behinderte und psychisch kranke Menschen, die als unheilbar und arbeitsunfähig galten, dem Tod geweiht: Nach einer eiskalten Kosten-Nutzen-Rechnung der NSDAP verbrauchten sie zu viele Personalressourcen, Nahrung und Betten. Ab 1941 beschleunigten die Nazis diese Pläne, denn es mussten Betten für verletzte Wehrmachtssoldaten und zivile Opfer „freigemacht“ werden.
Die Tatorte dieser Massenmorde waren Krankenhäuser und Pflegeanstalten wie in Hadamar, Wehnen oder Meseritz-Obrawalde, wo die Oberneulanderin Auguste Döhle ermordet worden war, für die es seit 2023 einen Stolperstein gibt. Vorzugsweise wurden Patient:innen ohne Angehörige oder bei denen niemand nachfragte, in Gaskammern oder anderweitig umgebracht. Wer nicht vergast wurde, verhungerte oder starb aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen. Wer arbeitsfähig war wie Johann, wurde noch eine Zeit lang am Leben gehalten.Zwar wurden Menschen mit psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen Vormünder/Pfleger zugeteilt. Doch inwieweit diese sich für sie eingesetzt hatten, ist fraglich.
Für Johann Meyer war Dr. Arend Tellmann als Pfleger zuständig gewesen. Der Jurist und Notar führte damals eine größere Anwaltskanzlei in der Bremer Hollerallee. Trotz oder wegen der offenbar rein formalen Pflege- und Vormundschaften waren psychisch und geistig Erkrankte schutzlos. Die Vernichtung „unwerten Lebens“ war insgesamt auf wenig Beachtung oder auf Widerstand in der Bevölkerung gestoßen, auch nicht durch das Pflegepersonal in den Anstalten.
Behinderte und geistig/seelisch Erkrankte standen am Rand der Gesellschaft, waren oft isoliert und ausgegrenzt, fielen ihren Familien oft zur Last, die ebenfalls Stigmatisierungen erfahren konnten, wenn ihr Familienmitglied bei ihnen zuhause wohnen blieb.
In der ersten Welle vergaste das Personal in Hadamar über 10.000 Menschen mit Kohlenmonoxid. Man verbrannte die toten Körper anschließend. Der Geruch war kilometerweit wahrnehmbar gewesen. Das hatte einen katholischen Geistlichen dazu gebracht, das anzuprangern – worauf die Nazis die Gaskammern dort tatsächlich wieder abbauten. Aber auf das zehntausendste Opfer war noch feierlich mit Bier angestoßen worden, hatte ein Augenzeuge berichtet. In einer zweiten Tötungswelle wurden tausende weitere hilflose Menschen durch Überdosen an Medikamenten oder mittels Luftinjektionen ermordet.
Der Lebens- und Leidensweg von Johann Meyer kann aufgrund seiner in Hadamar archivierten Krankenakte sowie aus Unterlagen im Bremer Staatsarchiv und aus dem Oberneuland-Archiv in etwa nachvollzogen werden. Skepsis ist nötig, wenn Diagnosen angegeben sind, so etwa, ob es sich wirklich um eine Schizophrenie gehandelt hat. Zeitzeug:innen, die ihn kannten oder Verwandte gibt es vermutlich keine mehr. Fotos von ihm wurden nicht gefunden.
Er war am 2. September 1942 aus der Heil- und Pflegeanstalt in Ellen (heute Krankenhaus Bremen-Ost) nach Hadamar verlegt worden. Neun Jahre zuvor war bei ihm Schizophrenie diagnostiziert worden. Auf Beschluss des Erbgesundheitsgerichts vom 4. Juni 1935 war er am 2. Juli 1935 sterilisiert worden.
In Hadamar war er einer manipulativen und entwürdigenden Befragung unterzogen worden. Unter anderem wurden ihm Fragen nach seinem Sexualleben gestellt. So soll er „keinen Kontakt zum weiblichen Geschlecht“ gehabt und nie in einer Partnerschaft gelebt haben. Weil er sich gegen Maßnahmen wie möglicherweise übergriffiges Festhalten oder Untersuchungsmethoden gewehrt hatte, wurde er als gewalttätig eingestuft.
In der ersten Zeit seines viermonatigen Aufenthalts, den letzten Wochen seines Lebens, wurde Johann noch in der Gartenkolonie der Anstalt eingesetzt. Vermutlich wird sein Zustand schnell verschlechtert haben, was an der mangelnden Versorgung und unzureichenden therapeutischen Behandlung gelegen haben dürfte. Die Patient:innen bekamen Wassersuppe zu essen. Für die Nacht standen ihnen oft nur Strohmatratzen zur Verfügung.
Als Todesdatum wurde für Johann der 16. Dezember 1942, als Todesursache „Darmkatarrh“ angegeben – eine unverfängliche Diagnose, die das Personal häufig bei ihren Opfern gestellt hatte.
Johann war am 3. April 1905 als erstes Kind des Wilhelm Karl und Anna Meta Meyer, geborene Bischof, im Landgebiet Rockwinkel auf die Welt gekommen.
Wilhelm war Maurer, die Familie evangelischer Konfession. Straßen hatte es im damaligen Rockwinkel noch nicht gegeben. Die Häuser waren durchnummeriert: Das Haus, in dem die Meyers gelebt hatten, hatte die Nummer 129a. Erst, nachdem das Landgebiet 1908 nach Oberneuland eingegliedert worden war, erhielten Wege und Straßen Namen, so auch die Apfelallee.
1909 kam Johanns Bruder Wilhelm auf die Welt. Die Kinder wurden in Oberneuland eingeschult, Johann war ein unauffälliger Schüler: Im Schuljahr 1913/1914 hatte er in Betragen eine 1, in Fleiß eine 2, in Rechnen eine 4, in Singen eine 2-3 und für die Erledigung von Hausaufgaben hatte er die Note 3 erhalten. Kein einziges Mal war er zu spät zum Unterricht erschienen.
Nach der Volksschule arbeitete er in der Landwirtschaft und in Fabriken, später als Gärtner. Bis auf eine Maserninfektion war er nie ernstlich krank gewesen. Schizophrenie kann in der Pubertät ausbrechen, auch zwischen dem 20. und 30. Lebenjahr. Johann war 25 Jahre alt, als die psychotische Krankheit erstmals bei ihm aufgetreten sein soll. Sie soll zudem nicht erblich bedingt gewesen sein, sonst hätte das zur Folge haben können, dass auch weitere Familienmitglieder zwangssterilisiert und auch in Pflegeanstalten hätten eingewiesen werden können.
Die Tötungsanstalt Hadamar war knapp zweieinhalb Jahre nach Johanns Ermordung, am 26. März 1945 von US-amerikanischen Soldaten befreit worden. Sie trafen auf noch 400 lebende Patientinnen und Patienten, die sich in entsetzlichem Zustand befunden hatten. Viele starben dahert in den Tagen und Wochen danach, weil die Folgen der Misshandlungen zu weit fortgeschritten waren.
Für Johann Meyers ehemaligen Pfleger Dr. Arend Tellmann war das Leben nach 1945 sorglos weiter gegangen: 1946 hatte er vom niedersächsischen Jägerbund den Auftrag erhalten, in Bremen eine Kreisgruppe aufzubauen. Für 16 Jahre war er deren 1. Vorsitzender. 1953 wurde er zum Landesjägermeister ernannt, berichteten die Bremer Lokalblätter. Einige Zeit lang war er auch Präsident des Bundesjagdverbandes. Er starb 1964 an den Folgen eines Autounfalls in Schwachhausen und wurde 70 Jahre alt.
Er war nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Soldat gedient hatte, organisierte er sich im Stahlhelm und im Freikorps Caspari. und hatte sich mit dem NS-Regime bestens arrangiert. Nach Kriegsende rettete er seine Reputation mittels etlicher Persilscheine und nicht nachprüfbaren Behauptungen sowie aufgrund eines schlurig durchgeführten Entnazifizierungsverfahrens.
Nach seiner militaristischen Vergangenheit und seinem guten Auskommen mit dem verbrecherischen Regime fragte danach keiner mehr: Dabei war er noch vier Wochen vor der Befreiung Bremens für die Sicherheitspolizei Zugführer des Volkssturms zur Errichtung von Straßensperren beim Einmarsch der Alliierten gewesen. Nach der Entnazifizierungsdirektive des Alliiertenkontrollrats war Tellmann er 1946 sogar in die Kategorie II, Belastete, eingestuft worden, die für Aktivisten, Militaristen und Nutznießer der Nationalsozialisten vorgesehen worden war. Doch innerhalb von nur drei Wochen, nachdem er Widerspruch eingereicht hatte, wurde er freigesprochen und erhielt umgehend seine Arbeitserlaubnis zurück. Nähere Infos siehe hier
Dass selbst führende Nazis nahtlos in das gesellschaftliche Leben und in ihre Berufe zurückkehren konnten, hatte der Historiker Hans Hesse analysiert. Er bilanziert die Entnazifizierung in Bremen in seinem Buch „Konstruktion der Unschuld“ als gescheitert. Selbst verurteilte KZ-Wachmänner waren durch den damalige Innensenator Theodor Spitta als Mitläufer zurückgestuft worden.
Durch Zwangssterilisierungen wurden zwischen 1933 und 1945 400.000 Menschen verstümmelt 400.000. Behinderte Frauen werden bis heute in noch 13 Ländern der Europäischen Union zwangssterilisiert, so in Dänemark, Finnland, Portugal.