Meine Großväter

©privat

UPDATE 19.12.21, siehe neuer fünfter Absatz

Meine Großväter Alfred, geb. 1911, und Johann (geb. 1904) waren Mitglieder der NSDAP. Ich habe ihre Parteiausweise vor kurzem als Kopie aus de Bundesarchiv erhalten. Johann habe ich nicht kennengelernt. Er starb, als ich ein paar Monate alt war. Alfred war fester Bestandteil meiner Kindheit und hat auch noch seine beiden Urenkelkinder kennengelernt, bevor er 1988 an einer Krebserkrankung gestorben ist. Er war ein ruhiger, friedfertiger Mensch, der manchmal aus seiner Kriegsgefangenenschaft Geschichten erzählte. Lustige Erzählungen. Alfred war zudem Mitglied der Waffen-SS. Wohl auch deswegen steckten ihn die Alliierten ins Lager.

Meine Oma berichtete andere Dinge aus dieser Zeit: Über den Hunger, das Hamstern und ihre Angst vor Vergewaltigungen. Über die Besetzung ihres Hauses durch die Amerikaner. Und dass mit 28 Jahren angefangen hatte, zu rauchen – vor Hunger. Auch dass meine Mutter 1940 gezeugt wurde und ihren Vater erst kennenlernte, als sie fünf Jahre alt war. Meine Mutter war eine Hausgeburt, die Füße kamen zuerst und es war einer der heißesten Tage des Sommers 1941. Ich habe mir oft vorgestellt, was das für eine Strapaze gewesen sein muss.

Dass Alfred ein Nazi war, davon bekam ich als Kind eine Vorahnung. Ich saß auf seinem Schoß, wir sahen zusammen Tagesschau. Es kam ein Bericht über Israel. Er kommentierte: “Hätten wir die Juden damals bloß alle vergast.” Ich konnte diesen Satz lange Jahre nicht einordnen. Und er hat mich seitdem begleitet. Er sprach ihn ganz beiläufig aus. So als wenn etwas aus seinem Kopf heraus musste, was da seit langem drin ist und lange nicht mehr ausgesprochen wurde. Nie wurde sonst bei uns über Politik gesprochen. und schon gar nicht über Geschichte oder Zusammenhänge. Ich habe ihn auch nie wieder Rassistisches oder Antisemitisches sagen hören. Nur ein weiteres Mal wurde es noch politisch: Meine Oma fragte mich – ich war erwachsen, lebte bereits in Hamburg, nach einem Besuch – ob wir, Holger rund ich, Kommunisten seien. “Das haben wir uns gedacht”, meinte sie kalt, nachdem ich die Frage bejaht hatte. Natürlich war ihnen auch vorher nicht entgangen, dass ihre Enkeltochter eine politische Aktivistin geworden war. Aber auch unsere Wohnung sah natürlich anders aus als ihre: Bücher und Plakate “verrieten”, wie wir dachten.

Johann war mit nur 58 Jahren in seiner Stammkneipe am Tresen zusammen gebrochen und starb an einem Herzinfarkt. Es gibt einige wenige Fotos, auf denen er abgebildet ist: Bei meiner Taufe etwa und auf seinen Hochzeitsfotos aus dem Jahr 1934. Es gibt zwei Foto-Versionen der Hochzeit: Eines, auf dem er einen Zylinder trägt, und eines mit Hakenkreuzen und Spalier stehenden Männern in Nazi-Uniform. Mein Vater erzählte vor kurzem, er sei als Soldat in Ungarn gewesen und einer der ersten, die nach Kriegsende nach Hause kam. Vor allem meine Mutter, die sich mit ihrem Schwiegervater sehr gut verstanden hat, hatte mir manchmal von ihm erzählt. Wie er mit meiner Schwester im Kinderwagen spazieren gefahren ist zum Beispiel – und mit ihr in die Dorfkneipe “Meyer am Boom” einkehrte.

UPDATE: Vor wenigen Wochen gab mir mein Vater ein Schreiben, dass er aus den Archiven Oberneulands erhalten hatte. Verfasst und unterschrieben hat es der ehemalige Bürgermeister der “Landgemeinde Oberneuland-Rockwinkel”. Darin heißt es, dass Johann Westphal in der Gemeinde einen guten Ruf genieße; dass er nach seiner Rückkehr von der Wehrmacht im Sommer 1945 sich sofort energisch dafür einsetzte, den Amngel an Haushaltungsgegenständen für die vielen in der Gemeinde eingebürgerten Ausgebombten und Flüchtlingen, zu heben. Weiter steht zu lesen, dass ihm, dem Bürgermeister, niemals bekannt geworden war, dass sich Johann Westphal parteipolitisch betätigt habe. Im Interesse der Gemeinde sei es deshalb dringend wünschswert, wenn Westphal weiterhin in seinem Geschäft tätig werden darf … Ein Freibrief, der einer Entnazifizierung gleichkam.

Die Nazivergangenheit meiner Großväter habe ich nicht geahnt. Nur mühsam kann ich mir vorstellen, wie sie der Ideologie nachgehangen haben, sich damit identifizierten und wie ihr Weltbild geformt war.

Aufarbeitung nach 1945? Fehlanzeige. Es wurde geschwiegen. Zuhause wurde nicht über Politik gesprochen. Nachrichten wurden – bis auf die besagte Tagesschau – nicht kommentiert. Zumindest nicht in meiner Gegenwart. Geschichte gab es nur dosiert über kleine Erzählungen.

Die Gewalt, die Verrohung, das Herrenmenschendenken, die industriell angelegten Massenmorde – meine Großväter hatten keine Chance, ihre Fehler einzusehen oder sich zu rehabilitieren. Sie mussten sich auch nicht stellen. Die Entnazifizierung war ja schnell abgeschlossen. Es wurde stattdessen viel gesoffen. Alfred und Johann starben letztlich daran. Alfreds Krebs mag auch beruflich bedingt gewesen sein – er hatte in einer Metallfabrik gearbeitet. Er wurde 75 Jahre alt.

Heute sehe ich es als meine Aufgabe an, nicht zu schweigen. Sagen, was ist. Erinnern. Aufzeigen, dass ganz normale Menschen den Nazis treu ergeben waren und den Verbrechern glaubten. Ihnen ihre Seele übergeben hatten. Es macht mich nicht wütend, dass meine Großväter Nazis waren. Es macht mich wütend, dass die Nachkriegsregierungen und die Nachkriegsjustiz deckelte und verharmloste. Denen haben wir auch die neuen Nazis zu verdanken. Die sich so sicher fühlen. Die heute wieder im Bundestag ein- und ausgehen. Mörderbanden wie der NSU agieren, ohne dass die strukturellen Rahmenbedingungen bei Polizei, Verfassungsschutz und Justiz aufgebrochen werden, die das Morden möglich machen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert