Weiblich und älter und trotzdem ADHS

KI generiertes Bild, Chat GPT @keartus

Vor elf Monaten erhielt ich die Diagnose ADHS. Vieles ist seitdem besser für mich geworden. Ich habe mich mit einigen meiner Eigenarten versöhnen können. Ich bekomme medikamentöse Hilfe und ich habe eine neue Therapie initiiert. Eine Schwerbehinderung von 30 Grad ist anerkannt – auch wenn mir das nicht mehr viel nutzt.

Denn die Diagnose kam zu spät. Meinen letzten Job in Festanstellung habe ich unter anderem verloren, weil ich über das damals noch ungelegte Ei „ADHS“ noch nicht sprechen konnte, um Änderungen von Aufgaben und Arbeitsabläufen zu erwirken. Die Suche nach einer neurologischen Praxis und das Diagnoseverfahren hatten fast ein Jahr in Anspruch genommen. Das geht fast allen so, die den Weg gehen wollen. Die Versorgungssituation in diesem Bereich ist eine Katastrophe.

Zwischenzeitlich war mein Arbeitsverhältnis zerrüttet, der Aufhebungsvertrag unterschrieben und die Freistellung vereinbart. Ich hatte am Ende gedanklich jeden Tag eine geladene Waffe in der Hand und fühlte mich wie ein Tier im Zwinger, das vom Rudel ausgestoßen wurde. Zuletzt war nur noch Wut in mir.

Ich stellte noch eine letzte Ausgabe des Mitarbeitenden-Magazins fertig, das ich verantwortete, dann löschte ich mich heraus. Bloß weg. Hoffentlich, dachte ich, hoffentlich bleiben bestimmte Menschen auch bald meinen durchwachten Nächten fern, damit die destruktiven Gedanken verschwinden. Es hatte nämlich viel Gutes dort gegeben und viele nette, freundliche Menschen, die ich weiter mögen und sehen wollte.

Hätte es anders und besser laufen können, wenn ich die Diagnose eher gehabt hätte? Ich hatte darauf gesetzt, denn Routinearbeiten, umfangreich verschriftliche Vorschriften und Anordnungen waren und sind mir immer ein Graus gewesen, auf die ich mit Anpassungs- und Motivationsschwierigkeiten reagierte. Wahrhaben wolle ich das Jahrzehntelang nicht. Mit ADHS und einer Schwerbehinderung hätte ich vielleicht anders und erfolgreicher arbeiten können.

Heute, und nach einigen Beratungsgesprächen, glaube ich das allerdings nicht mehr. Wer in so einer Struktur, wie der, in der ich gewesen war, erfolgreich sein will, muss meiner Meinung nach mindestens in ihr halbwegs gewachsen sein. Ich war zudem der ursprünglichen Idee gefolgt, dass mein kreatives Potenzial gewollt sei, um zu verändern. Stattdessen aber fühlte ich mich bald wie in eine Spur gezwängt. Eingezwängt.

Ich gehöre zu dem Teil der Menschheit, die Widerstandskraft und eine hohe Resilienz besitzen. Daher bin ich offenbar nie in Depressionen oder anderes hineingefallen. Ich reagiere auf Extremsituationen und Angriffen mit Protest, Widerstand und anderen Abwehrstrategien wie Gerichtsverfahren oder den Gang an die Öffentlichkeit. So habe ich meine, einerseits eingeschränkten wie andererseits schöpferischen, Potenziale stets ausbalanciert. Außerdem habe ich eine stabile, innige Partnerschaft und lebe in materiell sicheren Strukturen.

Ich hatte mit meinen Maßnahmen in der Regel Erfolg, auch wenn sie kräftezehrend sind. Ich habe mir neue, andere Aufgaben gesucht, die ich selbstbestimmt und freigeistig bewältigen konnte und die mir Wertschätzung einbrachten. Daher war es kein Versagen, den letzten Job aufzugeben, sondern ein Akt der Selbstfürsorge – heute weiß ich das. Und es ist, so sehe ich das heute, kein Verlust. Dass die andere Seite mich meinem Eindruck nach rausdrängen wollte, hatte ich zu spät vermutet. Pflichtgefühl und Gewissenhaftigkeit waren stärker. Leider ist das auch ein Symptom von ADHS.

Der bei ADHS-Betroffenen vorhandene Hyperfokus ermöglicht mir eine hohe Konzentration auf das, was Lust und Herausforderung ist. Das Medikament hilft mir, dass ich nicht mehr durch Selbstzweifel und Kontrollverluste in eine Versagensangstspirale gerate.

Ich gehöre derzeit vermutlich noch zu den ältesten auf ADHS diagnostizierten Menschen. Immer mehr Erwachsene und insbesondere Frauen erkennen in sich die Muster dieser Neurodivergenz und lassen sich testen. Aufgrund mangelnder Möglichkeiten kann das die Wartezeit darauf eine Tortur bedeuten.

Ich rate zudem allen, die sich auf den Weg machen wollen oder bereits gemacht haben, sich vor jenen zu hüten, deren erste Reaktion ein Faseln von Überdiagnosen oder Modekrankheit ist. Viele Verhaltensweisen und Denkmuster von ADHS-Betroffenen kennen andere zwar genauso – wie etwa Vergesslichkeit, Unkonzentriertheit, Impulsivität, Risikoverhalten. Daher ist es so schwierig, zu erklären, worin der Unterschied liegt. Ich kann Berge versetzen, Neuland erobern, zaubern und Wunder bewirken – manchmal bin ich gern ein bisschen größenwahnsinnig. Zunge herausstreckendes Smiley, als Emoticon :P

Früher eingegangene Risiken verstehe ich nun besser. Ich empfinde mich nicht mehr als verantwortungslos für das, was alles zum Teil geschehen ist, und radiere Schuld und Scham nach und nach aus meinem Wertesystem heraus,

Ich hatte während des Diagnoseverfahrens einen anonymen Instagram-Account eingerichtet, um Kontakt zu anderen aufzunehmen. Auch eine Selbsthilfegruppe habe ich besucht. Viele sind aber zu jung, um meine Lebenslage zu verstehen. Und dann gibt es jene, die flachatmige Hilfen anbieten, um Geld mit Coachings oder Newsletter zu verdienen. Nach der gestellten Diagnose habe ich den Account gelöscht und Newletter abbestellt.

Nur wenigen Menschen außerhalb meiner Familie habe ich bislang erzählt, welchen Grund es hat, dass ich einerseits Großes stemmen kann, Arbeit mich kaum ermüdet (solange sie nicht eintönig und fremdbestimmt ist), mir manchmal vier Stunden Schlaf reichen und mir Aufgabenvielfalt, Herausforderungen sowie Rampenlicht keine Probleme bereiten. Andererseits aber daran verzweifle, wenn ich eine Liste machen muss, dreimal hintereinander das falsche Passwort eingebe oder wenn ich das Gefühl habe, übersehen zu werden.

Nun schreibe diesen öffentlichen Text. Weil ADHS immer noch mit dem Stereotyp eines fünfjährigen hyperaktiven Jungen verbunden wird. Weiblich und älter passt nicht ins Schema. Und weil andere die gleichen Schwierigkeiten und Ängste haben und das Umfeld oft diskriminierend reagiert und widerum andere ausnutzen, weil es quantitative eine Mangelsituation an neurologischer Expertise gibt.

Das ist noch wichtig: Ich habe als 17-Jährige eine wegweisende und seelenrettende Entscheidung getroffen: Ich war bei meiner Mutter ausgezogen und habe mich damit einem destruktiven Milieu und einer Co-Abhängigkeit entzogen. Dadurch habe ich mein Leben nachhaltig und positiv geebnet. Ob mit oder ohne ADHS: Es sind immer unsere Entscheidungen statt unserer Fähigkeiten, die zeigen, wer wir wirklich sind.

Lese-Tipp

Weitere Infos: ADHS-Deutschland

 

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