„Kersten nimmt den Unterricht sehr ernst. Ihre Hausaufgaben verrichtet sie zuverlässig und ordentlich.“ – Es handelt sich um einen Satz, den meine Grundschullehrerin in mein erstes Zeugnis geschrieben hat. Ich habe mir oft mein Ich mit sechs Jahren vorgestellt, das todernst am Gruppentisch im Klassenraum sitzt und sich bemüht, dem Unterricht zu folgen, und alles unternimmt, um gute Ergebnisse zu erzielen.
Was mir in der Grundschulzeit nicht schwer viel. Ich hatte zwar nur wenige Einsen, dafür umso mehr Zweien. Ich war zufrieden damit und meine Eltern offenbar auch. Welche Rückmeldungen ich zuhause bekam, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber daran, dass ich einmal mit einem Zeugnis aus der Schule kam und es unserem Dorfpolizisten Herrn Thiel vorzeigte, der gerade vor seiner Wache stand, an der ich täglich zweimal vorbei musste. Herrn Thiel mochte ich sehr gern. Ich habe ihn einige Male in seiner Wache besucht, die trockene Büroluft geschnuppert und die Paperstapel und Ordner bewundert. Dass er da durchblickte! Ich durfte auch auf seiner Schreibmaschine tippen. Herr Thiel war immer sehr nett zu mir. Kein Polizist hat es jemals wieder geschafft, solche Sympathien bei mir zu wecken.
Meine schulischen Leistungen hielten auf dem Zweier-Niveau bis etwa zu achten/neunten Klasse. Spaß am Lernen habe ich dann erst wieder in der Berufsschule bekommen. Immer aber habe ich an mich gestellten Aufgaben ernst genommen und mich bemüht, gute Leistungen zu bringen. Ich hatte aber oft keinen Plan, wann und wie ich mir am besten Hilfe besorge, wenn ich etwas nicht allein lösen konnte. Ich fand immer, dass ich mich am besten auf mich selbst verlassen kann. Und wenn ich was nicht schaffe, dann bin ich schuld. Dass ich oft verzweifelt war, kann man sich vorstellen. Dass ich einen hohen Anspruch an mich selbst habe, vielleicht auch. Eine meiner Strategien ist Ordnung. Solange ich einen Überblick habe, kann ich nicht genug auf dem Tisch haben. Solange ich weiß, was in meinen Papierstapeln und Ordnern steckt (in meinem Emailpostfach, auf meiner Festplatte, in meiner Cloud) geht es mir gut. Der Spruch „Ordnung ist das halbe Leben“ ist mein Mantra. Natürlich habe ich im Laufe der Jahre Lebenserfahrung gewonnen und kann Fünfe auch gut mal gerade sein lassen. Aber von Grundsatz her trifft die Beobachtung meiner Grundschullehrerin bis heute zu.
Mit verständnisloser Faszination erlebe ich Menschen, die ihr Leben anders leben. Denen Pünktlichkeit nicht wichtig ist, die ohne schlechtes Gefühl tagelang ihr Bett nicht machen oder denen Papierstapel oder ihre Mailpostfächer völlig wumpe sind.
Ich finde so ein Leben zwar nicht abstoßend. Es ist nur so, dass ich nicht verstehe, wie man so leben kann. Etwa, dass es Leute aushalten, erst eine Minute vor Abfahrt des Zuges auf dem Bahngleis zu erscheinen und keinerlei Panikreaktionen und Schweiß zeigen. Oder deren Wohnung ständig aussieht wie ein Ladengeschäft nach einen Tag Sommerschlussverkauf. Was ist in deren Leben anders gelaufen als bei mir?
Warum fühlen sich manche Menschen im Chaos wohl, halten es etwa gut aus, dass ihre saubere und ihre gebrauchte Wäsche einträglich nebeneinander liegen. Und zwar tagelang. Ich vermute, diese Leute haben keine Mutter wie meine gehabt. Meine Mutter war eine exzellente Managerin – was dem familiären und häuslichen Bereich anging, uns Kinder und ihre Arbeit, die Pflege ihres sozialen Umfeldes, und ihr eigenes Aussehen. Meine Mutter war die hübscheste Frau in der Straße, immer mit gefärbten Haaren (ohne Ansatz), frisch lackierten Fingernägeln und schicken Kleidern. Obwohl sie den ganzen Tag im Laden arbeitete! Das Detail war ihr genauso wichtig wie das große Ganze.
An zwei typische ihrer Anforderungen erinnere ich mich besonders gut: So wurde an Weihnachten vor dem Schmücken das Bügelbrett aufgeklappt, und die Bänder, mit denen sie die Weihnachtskugeln um die Zweige des wohl gewachsenen Tannenbaumes festband, wurden glatt gebügelt, damit sie schöne Schlaufen hatten. Wegen seiner Schönheit und den dafür betriebenen Aufwand stand er manchmal bis Mitte Januar in unserem Wohnzimmer.
Ganzjährig wichtig war hingegen der Zustand der Brückenteppiche. Die lagen im Flur und im Wohnzimmer. Sie hatten Fransen, über die Wikipedia sagt, es seien „ornamentale Ränder aus textilen Fäden.“ Meine Mutter legte sehr viel Wert darauf, dass die Fransen im 45-Grad-Abstand zum Teppich gleichmäßig nebeneinander lagen. Und mit gleichmäßig meine ich wortwörtlich gleichmäßig. Insbesondere wenn Besuch kam, hatten die Fransen so da zu liegen und einfach nur gut auszusehen, als wenn sie immer so aussehen würden. Wir Kinder hatten die Aufgabe, kurz bevor der Besuch die Wohnung betrat, die Fransen noch einmal darauf hin zu überprüfen und jede Abweichung zu korrigieren. Dafür hing an einem Haken im Flur ein Fransenkamm.
„Mach nochmal schnell die Fransen“, rief meine Mutter, wenn das Auto des Besuchs bereits auf unser Grundstück fuhr, ich gehorchte widerstandslos, denn es gab in dem Moment wirklich nichts wichtigeres. Kein Besuch durfte über unsere Brückenteppiche gehen, ohne dass die Fransen gekämmt waren. Das war Gesetz. Überall auf der Welt, davon ging ich aus. Und deswegen konnte meine Grundschullehrerin auch zu keiner anderen Bewertung kommen.
Ich dachte ja, Fransenkämme gibt es heute nicht mehr. Aber wenn man googelt, findet man sie tatsächlich doch noch.