Ich habe dieses Buch in den 1980er Jahren schon einmal gelesen. Die Wiederentdeckung des Romans „Lust auf ein Morgen“ war nun eine Reise zurück zu den Frauen, mit denen ich groß geworden bin: Meine Mutter, meine Groß- und Urgroßmütter, meine Patentante, meine Schwester. Sie haben mir ihr Frausein vorgelebt. An ihnen konnte ich mich messen, mich vergleichen. Sie haben mir vermittelt, was weiblich ist und was nicht. Was haben sie angezogen? Wie sind sie mit Ihresgleichen, wie mit Männern umgegangen? Welche Konfliktstrategien hatten sie, welche Träume, Wünsche, Ängste? Konnten sie befriedigend Sexualität leben, füllte sie ihre Arbeit aus? Kämpften sie für ihre Rechte oder passten sie sich an? Sie waren mir jetzt wieder sehr nah.
Zwei Teenager lieben sich hinter einem Busch. Sie werden von zwei Männern entdeckt und von ihnen vergewaltigt. Das eine Mädchen wählt danach den Freitod. Moss, die andere, flüchtet, weil sie schwanger geworden ist und Angst hat, von der Familie verstoßen zu werden. Sie wird zu einer der Säulen der englischen Familien-Saga. Biff ist ebenfalls geflohen: Die junge Suffragettin musste die Ermordung ihrer Schwestern und ihrer Mutter mit ansehen. Um zu überleben, wird sie äußerlich zum Mann und verlässt Manchester.
Biff dient sich in einer Kleinstadt, die vom Kohleabbau lebt, als Laufbursche bei einem Lebensmittelhändler an. Dort kommt auch Moss an – und bleibt als Haushälterin bei den beiden Männern. Biff und Moss entdecken ihre Liebe, wenn auch nicht gleich. Wir dürfen daran teilhaben.
Im Laufe der Geschichte kommen weitere Familienmitglieder hinzu. Töchter, Söhne, Enkelkinder, eine Urenkelin. Das Geheimnis von Biff muss unter allen Umständen gewahrt bleiben – bis zum Tod. „Ich muss unbedingt vor Dir sterben.“, sagt Biff zu Moss. Ein Frauen-Liebespaar lebt vor allen Augen, integriert in die Stadtgesellschaft, mit Kindern und Kindeskindern. Es ist schließlich die Geliebte ihrer ältesten Enkelin, die die Identität von Biff in Frage stellt. Sie weiß auch, das sie mit der Preisgabe ihrer Erkenntnis die mühsam aufgebaute Welt von Biff und Moss zerstören kann, auch ihre eigene große Liebe wäre gefährdet.
Die Handlung über acht Jahrzehnte ist in das karge Leben der englischen Arbeiterklasse eingebettet. Die klassischen Frauen- und Männerrollen werden aktiv gelebt und doch hinterfragt. Die Frauen sind in der Geschichte nicht die besseren Menschen, aber sie wird aus ihrer Perspektive erzählt. Caeia March erzählt die Komplexität lesbischer Lebensweisen im 20. Jahrhundert in einer ruhigen und gleichzeitig spannenden Art.
Eine Frau, die als Mann lebt, war früher so selten nicht. Es war nicht nur Schutz, es hatte Vorteile. Der Preis war groß: Sie konnte keine eigenen Kinder bekommen, ein Arztbesuch war nicht möglich. Und wenn sich eine Frau männliche Verhaltensweisen antrainierte, gab sie auch innerlich ein Stück Identität auf. Wo blieben die unbefriedigten Bedürfnisse nach Nähe und gelebter Sexualität? Biff und Moss erleben eine erfüllte Liebe, bis ins hohe Alter.
Ich bin beim Lesen immer wieder abgeschweift, und habe doch nur wenige Tage gebraucht, um das Buch durchzulesen. Meine Gedanken wanderten zu meiner Mutter, meinen Großmüttern, meiner Schwester. Was weiß ich über ihre Geliebten? Über ihre Sexualität? Was wussten und was wissen sie von mir, von meinen Freundinnen? Wie wenig reden engste Verwandte über das, was mit das Bedeutendste im Leben ist! Und wie groß ist die Repression engster Verwandter, wenn eine Frau von der Norm abweicht.
Hierzulande müssen wir nicht mehr um unser Leben fürchten, wenn wir für die Rechte von Frauen kämpfen. Wir werden nicht mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen, wenn wir Frauen lieben. Wir dürfen unser Kind behalten, es darf sogar zwei (lesbische) Mütter haben. Erinnern wir uns: Es gibt diese Realität noch nicht lange. Seien wir unseren Vorfahrinnen dankbar für ihre Opfer und ihren Kampf.
Lust auf ein Morgen, 323 Seiten, 14 Euro