Landesparteitag Die Linke Hamburg, 28. September 2025
Heute spreche ich als Gästin, weil heute der Safe Abortion Day ist. Den haben Aktivist.innen der Pro-Choice-Bewegung nach Deutschland geholt. Er hat seine Wurzeln in Lateinamerika. Der 28. September war der Tag, an dem im Jahr 1871 das brasilianische Parlament das Recht auf freie Geburt von Kindern verabschiedet hatte. Ein wichtiger Schritt zur Abschaffung der Sklaverei.
Seit 1871 steht auch der §218 im deutschen Strafgesetzbuch. Das zeigt, wie nah Erfolge und Niederlagen, wie parallel Fort- und Rückschritte stattfinden, und dass alles eine Geschichte hat. Die man kennen sollte, wenn man etwas abschaffen will.
So findet auch dieser Parteitag in einer außergewöhnlichen, herausfordernden Zeit statt. Aber im Grunde genommen waren die Zeiten immer herausfordernd für uns Sozialist.innen.
Trotzdem ist es nahezu unfassbar, wie unverfroren Realitäten und Geschichte derzeit verdreht und verharmlost werden. Und wie die Reaktion durchzumarschieren scheint.
Man darf und man muss es deutlich sagen: Charlie Kirk war ein rechtsradikaler religiöser Krieger, der den Tod durch Waffengewalt immer billigend in Kauf genommen hatte.
Und auch den Tod durch Abtreibungsverbote. Er hatte die hypothetische Position geäußert, dass er seine zehnjährige Tochter dazu bringen würde, eine Schwangerschaft in Folge einer Vergewaltigung auszutragen.
Weltweit gehören Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt zu den häufigsten Todesursachen bei Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren.
Bei einer Zehnjährigen, deren Körper noch unreifer ist, ist dieses Risiko noch höher. Charlie Kirk relativierte auch den Holocaust, in dem er Abtreibungen als achtmal schlimmer bezeichnet hat.
Aber Jens Spahn bezeichnete dessen Positionen neulich bei Carmen Miosga als “sehr stark und wichtig”. Er fand, dass Kirk kein Extremist sei, sondern “konservativ, aber auch liberal”.
Meiner Meinung nach diskreditiert das Jens Spahn für jegliches politisches Amt.
Jens Spahn hatte als Bundesgesundheitsminister 2018 einmal gesagt: „Mich wundern die Maßstäbe: Wenn es um das Leben von Tieren geht, da sind einige, die jetzt für Abtreibungen werben wollen, kompromisslos. Aber in dieser Debatte wird manchmal gar nicht mehr berücksichtigt, dass es um ungeborenes menschliches Leben geht.“ (Bild am Sonntag” am 18. März 2018)
Ich hatte mich damals gewundert, woher dieser abstruse Vergleich kommt. Fündig, und zwar ausschließlich, wurde ich auf einer Website von Klaus Günther Annen.
Er ist ein verurteilter Holocaustrelativierer, Abtreibungsgegner und Ärzt:innendenunzierer. Der Name seiner Website lautet, Nomen Est Omen – babycaust (dot) de.
Liebe Delegierte, liebe Gäst:innen,
das 19. Jahrhundert gilt als Ära der umfassenden Kriminalisierung von Abtreibungen.
Schwangerschaftsabbrüche sind aktuell in mindestens zehn Ländern weltweit vollständig verboten; in nur 14 sind sie derzeit vollends legal. (Kanada, Südafrika, Australien, Neuseeland, Uruguay, Argentinien, Kolumbien, Mexico, Kuba, China, Mosambik, Tunesien, Guinea-Bissau, Benin = 12% aller gebärfähigen Menschen weltweit ab 15 Jahren.)
In den letzten 30 Jahren haben mehr als 60 Länder ihre Abtreibungsgesetze liberalisiert. Das ist feministischem Widerstand zu verdanken, aber vornehmlich sozialistischen und kommunistischen Regierungen, Parteien und Strömungen.
Liebe Delegierte, liebe Gäst:innen,
ich möchte die Geschichte von Renate erzählen. Sie hat sie mir vor einigen Jahren erzählt. Renate ist heute 82 Jahre alt.
Ein Hinweis: Die Erzählung beinhaltet Darstellungen von Gewalt. Bitte fühlt Euch frei, den Raum zu verlassen, wenn Ihr das nicht hören möchtet.
Renate hatte bereits ein Kind. Von ihrem damaligen Freund wurde sie kurz nach der Geburt erneut schwanger. Gemerkt hatte die gelernte Hauswirtschaftlerin anfangs nichts davon. Sie blieb schlank.
Wegen Bauchschmerzen ging sie irgendwann zum Arzt. Der stellte eine Schwangerschaft im fortgeschrittenem Stadium fest.
Sie müsse außerdem damit rechnen, dass das Kind geistig behindert auf die Welt käme und wohl nicht lange überleben würde.
Panik kam bei ihr auf. Sie dachte einerseits an die Entbindung von ihrem Sohn, bei der die Ärzte grob und lieblos vorgegangen waren.
Sie dachte aber auch daran, was sie einem Kind antut, wenn es in eine Welt geboren würde, die Behinderte zu Außenseiter:innen stempelt, was damals die Regel war.
Ihren Eltern sagte sie nichts, ihrem Freund vertraute sie sich an. Der meinte, er würde es regeln. Er fuhr mit ihr wenige Tage später zu einem Bekannten, zu dessen Wohnwagen.
„Leg Dich da auf den Tisch“, ordnete der an. Renates Freund verließ den Wohnwagen. Sein Bekannter hantierte an ihrer Vagina herum, schob einen Schlauch ein und eine Stricknadel hinterher.
Klebte dann den Schlauch an ihren Oberschenkel fest und sagte: „In ein paar Tagen geht es ab, Du kannst gehen.“
Drei Tage später nahmen die Bauchschmerzen zu. Renate schob einen Spiegel zwischen ihre Beine und legte einen Abfalleimer mit Plastiktüten aus. Die Überreste des Fötus, sie schätzte, es müsste im 5. Monat gewesen sein, begrub sie. Es war 1968 und ihr 25. Geburtstag.
Heute sagt Renate: „Lange danach ging es mir richtig schlecht. Von meinem Freund habe ich mich kurze Zeit später getrennt. Ich weiß bis heute nicht, ob es stimmt, dass das Kind schwerstbehindert auf die Welt gekommen wäre. Ich habe dem Arzt damals einfach geglaubt.
Ich wollte Anfang der 1970er schon an der Aktion vom STERN mitmachen, in dem Frauen bekannten, sie hätten abgetrieben. Doch ich hatte gerade erst meinen neuen Freund kennengelernt. Ich schwieg also weiter.
Ich kann überhaupt nicht verstehen“, sagte mir Renate, „dass Ärztinnen und Ärzte wie Kristina Hänel für etwas verurteilt werden, was für Frauen so wichtig ist:
Dass sie sich in gute Hände begeben. Dass sie wissen, was mit ihnen geschieht. Dass sie nicht mehr ausgeliefert sind. Der Paragraf 219a muss weg.“
Liebe Anwesende, Renates Wunsch, den sie für die heutige Generation hatte, wurde vor drei Jahren Wirklichkeit.
Eine breite Bewegung hat es geschafft, dass im Bundestag ausreichende Mehrheiten zustande kamen, nachdem die SPD einen bereits eingereichten Antrag auf Abschaffung des 219a kurz vor der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages 2018 wieder zurückgezogen hatte.
Die Ampel-Koalition hatte dann aber im letzten Jahr (2024) nicht genug Courage oder vielmehr den politischen Willen – danke Olaf Scholz und Karl Lauterbach, für nichts –, trotz Empfehlungen der von ihr selbst eingesetzten, Expert:innenkommission, und mit der Mehrheit der Bevölkerung im Rücken, endlich auch § 218 aus dem StGB zu streichen.
Obwohl auch mehrere UN-Ausschüsse, internationale Menschenrechtsorganisationen und die WHO eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen dringend anraten.
Weil Abtreibungsverbote mit dem Recht auf medizinische Grundversorgung und Wahlfreiheit, dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf die körperliche Unversehrtheit nicht vereinbar sind!
§ 218 StGB ist ein Unrechtsparagraf. Wie Käthe Kollwitz es 1924 so treffend mit ihrem Plakat verdeutlichte!Daher ist es gut, dass Menschen weltweit gegen Abtreibungsverbote und für sichere Schwangerschaftsabbrüche heute auf die Straße gehen. Auch in Hamburg.
Liebe Delegierte, liebe Gäst:innen,
Kristina Hänel, unter anderem Trägerin des Clara-Zetkin-Preises, schrieb im letzten Jahr der ZEIT, ich zitiere Auszüge:
… nach diesen aufwühlenden Erfahrungen begann ich, mich mit der medizinhistorischen Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland zu beschäftigten.
Mich interessierte die Frage, was eigentlich passiert, wenn diejenigen, die meinen, „das Leben“ durch strafrechtliche Verbote beschützen zu müssen, die Macht haben, über den Körper von erwachsenen Personen zu entscheiden.
Ich beschäftigte mich damit, wie die Realität früher aussah und wie Abbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht wurden, als Abtreibung noch ohne jede Ausnahme unter Strafe stand.
Ich suchte nach Spuren in Kliniken und Sektionssälen. In Archiven schlug ich alte dicke Bücher auf, die ich nicht nur wegen ihres Geruchs mit Ehrfurcht berührte. Blätterte ich doch in der Lebensgeschichte anderer Menschen. Schneller als gedacht fand ich, was ich suchte.
Egal in welchem Jahrzehnt und unter welchem politischen System ich stöberte, ich stieß auf die Geschichte von Frauen. Ich las ihre Namen, ihre Herkunft, ihren Beruf: Hilfsarbeiterin, Portiersfrau, Dienstmädchen.
Da stand die Zahl der Kinder, die sie geboren hatten – eins, zwei, drei oder auch 25. Und da stand auch die Zahl der Kinder, die überlebt hatten, denn früher wurde das in der Krankengeschichte erwähnt.
In den Sektionsprotokollen las ich, wie ihre Organe ausgesehen hatten, als man sie nach ihrem Tod untersuchte. Gebärmutter, Nieren, Leber, Milz, Herz oder Hirn waren zerstört durch die Vergiftung der benutzten Seifenlauge, in anderen Fällen ausgeblutet durch Verletzungen. …
… Jahr um Jahr hatte die Todesrate durch Abtreibungen knapp hinter der von Tuberkulose gelegen, der damaligen Todesursache Nummer eins. …
… Zur Dialektik der Abtreibung gehört (auch), dass die zugrunde liegende ethische Problematik ein klassisches Dilemma beinhaltet und niemals lösbar sein wird.
Aber kein einziges Strafverbot hat jemals zur Verhinderung von Abtreibungen geführt, nicht einmal die Einführung der Todesstrafe während der Nazidiktatur. …
… Abgesehen davon, dass ich jedem Kind wünsche, gewollt und geliebt auf die Welt zu kommen, ist unbestritten: Eine tote Frau kann kein Kind zur Welt bringen.
Liebe Delegierte, liebe Gäst:innen,
diese zwei Stühle mögen heute leer bleiben. Sie sollen symbolisch für die Frauen und Mädchen stehen, die aufgrund von Abtreibungsverboten gestorben sind. Zu denen im Übrigen auch Renates Großmutter gehört.
Meine Mutter hat eine Abtreibung überlebt, sieben Monate nach meiner Geburt. Sie hatte sich Seifenlauge eingeführt.
Meine Abtreibungen hatte ich unter relativ sicheren Umständen durchführen lassen können. Schlimm waren jedoch das Tabu, nicht darüber reden zu können, und die Schuldgefühle. Die Versorgungssituation hat sich hierzulande seitdem allerdings dramatisch verschlechtert.
So habe ich abschließend an Euch die Bitte: Fragt Eure Mütter und Großmütter, ob sie Abtreibungen hatten. Und wie sie sie erlebt haben. Nehmt sie in den Arm. Brecht das Tabu auch in Eurem direkten persönlichem Umfeld.
Und wenn möglich, geht heute auf die Demo. Es kann nur eine Forderung geben:
Geschichte ist veränderbar!
Nieder mit dem Abtreibungsparagrafen!