Die späte Diagnose Aids

dsc_0278Erschienen in der Welt Hamburg am 3. März 2016

Ihr erste Gedanke war: Das ist bizarr. Wann, bitteschön, soll ich mich denn infiziert haben? Warum ausgerechnet ich? Die Diagnose, die ihr Arzt ihr mitteilte, lautete: Aids im Endstadium.

Heute fährt Claudia Kramer* wieder Fahrrad und steigt jede Treppe hoch. Sie geht ihrer Arbeit nach, trifft Freunde, fährt in den Urlaub, plant ihre Zukunft. Vor zwei Jahren sah es für die 51-Jährige nicht so aus, als wenn sie jemals wieder ein normales Leben würde führen können. Oder überhaupt ein Leben. Das Röntgenbild ihrer Lunge zeigt eine weiße Schicht. Trockener Husten raubte ihr den Schlaf. Atemnot ließ die schlanke, sportliche Frau an jeder Treppe scheitern. Fieber hielt sich konstant auf hohem Niveau. „Ich hatte kaum noch Helferzellen, die meine Abwehrkräfte gegen krankmachende Eindringlinge in meinem Körper steuern konnten.“, sagt sie.

Claudia Kramer sucht immer noch nach Antworten. Die Sozialwissenschaftlerin ist es gewohnt, die Welt zu begreifen, Phänomene zu verstehen, und sich mit Ursache und Wirkung von Ereignissen auseinanderzusetzen. „Ein Lottogewinn wäre wahrscheinlicher gewesen als diese Infektion.“, resümiert sie. Die Rechnung ist einfach, sie geht dennoch nicht auf: 80 Millionen Menschen bevölkern Deutschland. 80.000 davon haben HIV, 15.000 von ihnen sind Frauen. Warum gerade sie? Warum hat sie Aids und nicht all jene, die ständig, auch ohne Kondom und manchmal eben auch mit fremden Menschen Sex haben? „Ich hatte in den letzten 20 Jahren nur selten Sex. Die Möglichkeit, mich zu infizieren, war so gering, dass noch nicht einmal die vielen von mir konsultierten Ärzte auf das HI-Virus gekommen waren.“, erzählt sie. Und das, obwohl sich die typischen Symptome bereits seit längerem zeigten. Doch keiner der von Claudias aufgesuchten Mediziner hat einmal gründlich nachgeforscht, warum sie gleich zweimal eine Gürtelrose hatte. Nicht einmal eine Lungenfachärztin erkannte die große Gefahr. „Stattdessen bekam ich beliebige Ratschläge und Mittelchen gegen Stress.“, berichtet sie, immer noch verärgert. Sie ist den Ärzten im Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf auch deswegen bis heute unendlich dankbar, dass sie sie umsorgt, behandelt und wieder ins Leben zurückgeführt zu haben. In ihr Leben. Doch dafür musste sie sich sogar selbst in die Notaufnahme einweisen. Dort erlebte sie, am Ende ihrer Kräfte, noch einmal acht Stunden voller Angst, wieder weggeschickt zu werden. „Endlich, nach einer Untersuchung, nach einer Biopsie, nach einer gezüchteten Zellkultur, wusste ist, woran ich war: Ich war todkrank.“

Fachleute bezeichnen Menschen wie Claudia Kramer als „Late Presenter“, als Personen mit einer späten HIV-Diagnose. Davon gibt es gar nicht so wenige. Geschätzte 14.000 Menschen leben in Deutschland, nicht wissend, dass sie das Virus in sich tragen. Von den ungefähr 3.500 Neudiagnosen jährlich sind 400 Frauen betroffen – jeden Alters, aus jedem Milieu, mit jeder Herkunft. Oft wird die Infektion während einer Schwangerschaft festgestellt. Manchmal liegt der Zeitpunkt der Infektion allerdings schon Jahre zurück. Bei 7,2 Prozent der Spätentdeckten sogar länger als zehn Jahre. Das späte Erkennen kann zu schweren gesundheitlichen Schäden führen. Circa 500 Menschen jährlich sterben in Deutschland immer noch an den Folgen der HIV-Infektion.

Allzu gut geht es natürlich auch Claudia nicht. Die Krankheit bestimmt den Alltag. Zu lange hat das Virus in ihrem Körper Schaden anrichten können und ihr Immunsystem geschwächt. Die Medikamente, die sie nehmen muss, haben Nebenwirkungen. Jede Nacht hat sie Schmerzen, ihr Körper fühlt sich dann ganz steif an. Ihr Risiko, an Krebs zu erkranken, ist erheblich gestiegen. „Was mir hilft, ist eine gute Ernährung und viel Bewegung. Wenn ich mich bewege, mit den Fahrrad fahre oder jogge, vergesse ich das Virus.“

Claudia ist froh, dass ihr niemals jemand Vorwürfe gemacht hat. Wofür auch, aber es ist ja nicht unnormal, Schuldige zu suchen, wenn sich etwas nicht erklären lässt. Eine Frau mittleren Alters, alleinstehend, guter Job und heterosexuell, zählt nicht zu jenen, bei denen Aids vermutet werden könnte. Wer daran erkrankt ist, bei dem wird auch umgehend auch die Eigenverantwortung hinterfragt. „Ich kenne andere Frauen wie mich, die haben es nicht einmal ihren Eltern gesagt. Ich habe es meiner Mutter und meinem Vater gleich gesagt.“ Sie hat es nie bereut: „Sie waren und sind bis heute eine wichtige Stütze.“ Als sie im UKE lag, fiebrig und so erschöpft, dass sie keine Stufe mehr schaffte, telefonierte sie immer morgens mit ihnen. „Das ist wie ein tägliches Update für mich gewesen.“ Und noch ein Phänomen half ihr, den Kampf mit der Krankheit aufzunehmen: Durch das Fieber schwitzte sie ständig. Der Schweiß floss nur so aus ihr heraus. Es fühlte sich für sie so an, als wenn das Leben sie überschwemmte – eine überwältigende Erfahrung.

Wer wie Claudia immer ein selbstbestimmtes Leben gelebt hat, will sich zudem nicht als Opfer sehen. Und schon gar nicht diskriminiert fühlen. Wenn sie einmal vergleicht, dann sei sie nur eine von vielen. HIV hat sie beschädigt, doch sie sieht natürlich auch andere Menschen, denen es schlechter geht: die an Rheuma, Depressionen oder Krebs leiden. HIV hat außerdem vielfältige Erscheinungen. Sie kennt Betroffene, die sitzen im Rollstuhl. Andere können nicht mehr arbeiten, verdienen kein eigenes Geld. Armut ist unter HIV-Infizierten häufig. Die Aids-Stiftung vergibt jedes Jahr Hunderttausende an Hilfsgeldern für akute Notfälle. Im Jahr 2014 haben erstmals mehr Frauen als Männer davon Gebrauch gemacht – 65 Prozent von über 2.000 Antragstellern.

Claudia Kramer hält sich oft in einem Internetforum für HIV-Infizierte auf. Eine Stunde am Tag, manches Mal länger, dann tagelang gar nicht. Vor allem junge Schwule diskutieren dort, darunter viele, die aufgrund guter Medikamente überhaupt keine Krankheitssymptome haben. Und die trotz ihrer Infektion regelmäßig Sex erleben. „Das muss man aushalten.“ sagt sie, die alleine lebt. Es ist ein heikles Thema und ein schwieriger Gedanke. HIV ist zwar kein Grund, auf Sex zu verzichten, denn mit Kondom ist der Partner geschützt. Streicheln, Schmusen, selbst Zungenküsse übertragen das Virus nicht. „Ich stelle mir dennoch vor, wie das wäre: Ich lernt jemanden kennen, und beim ersten Date muss ich dann sagen: Übrigens, da ist noch was … .“

In ihrem beruflichen Umfeld weiß niemand von Claudias Infektion. Sie will nicht, dass dann nur noch die Krankheit gesehen wird und nicht mehr sie als Mensch. Sie will Stigma und Ausgrenzung nicht ertragen müssen. Es wäre nicht ihr Leben. Claudia will kein Mitleid, sondern Akzeptanz.

Kersten Artus

welthamburg

*Name geändert

WELT Hamburg online

 

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