Mädchen in Bolivien: Am Anfang waren es Bauchschmerzen

veröffentlicht bei Huffingtonpost.de (nicht mehr online)

Zwei Frauen aus Deutschland unterstützen den Bau eines Schutzhauses für Mädchen in Bolivien.*

Karina Klein will, dass jetzt geholfen wird. Sofort. Prävention nutzt diesen Mädchen nichts mehr. Nicht der 16-jährigen Andrea**, die ihr Baby vor vier Jahren bekam und es zur Adoption fortgegeben hat. Nicht der zwölfjährigen Elena**, die eines Tages hochschwanger vor der Tür stand, und nun ihren zwei Monate alten Sohn Roberto** auf dem Bett liegend stillt und die Frau aus Deutschland unsicher anschaut. Prävention hilft auch den anderen 14 Mädchen nicht mehr, die in dem Mädchenschutzhaus eine Zuflucht gefunden und von denen fast alle schon Kinder geboren haben. Die Erzeuger sind Brüder, Onkel, die eigenen Väter. Oder ein Nachbar hat sich im Suff an den Minderjährigen vergangen. Diese Mädchen benötigen direkte Hilfe: Schutz, Begleitung bei Gericht, eine Ausbildung, psychologische Behandlung.

Karina Klein ist Ärztin ist Esslingen und hat zusammen ihrer Tochter Milena den Bau dieses Hauses mitfinanziert. Sie haben mit dem Erbe einer Tante die „Stiftung Johana – our own lives, bodies & rooms“ gegründet, um Mädchen wie Elena und Andrea konkret zu helfen. Ihre Stiftung wird treuhänderisch vom Kinderhilfswerk „Plan International“ verwaltet. Nach zwei Jahren war das Haus gebaut und bezugsfertig, 16 Mädchen konnten mit ihren Betreuerinnen vom Verein „Mujeres en Acción“ aus einer bislang angemieteten Wohnung einziehen. Es liegt abseits vom quirligen Treiben der südbolivianischen Stadt Tarija in einem Industriegebiet.

Drei große Schlafzimmer, eine Küche, einen Gemeinschaftsraum, ein Hof: Sie nennen es „Vida Digna“, das heißt „würdiges Leben“. Hohe Mauern umgeben das Grundstück. Auf der langen Terrasse liegen bemalte und beschriebene Steine. Für die traumatisierten Mädchen stehen Spielgeräte sind auf dem Gelände: Wippen, Schaukeln, Rutschen. In der Küche stapeln sich Säcke von Nudeln, Mais und Brot. Ein Hundewelpe läuft schwanzwedelnd herum. Ein Garten ist noch in Planung. In den Zimmern stehen zwischen sechs bis neun Betten, in denen die Mädchen gemeinsam mit ihren Babys schlafen. Kuscheltiere und Kleinkindkleidung liegen in offenen Regalen. Es sollten eigentlich 30 Mädchen sein, die im „Vida Digna“ Schutz finden. Doch für eine zweite Etage hatte das Geld hat nicht gereicht. Es reicht sowieso hinten und vorne nicht. Eine Juristin, die Strafanzeigen und Sorgerechtsstreitigkeiten betreute, musste gehen, weil sich Terre des Hommes Niederlande aus dem Projekt zurückgezogen hat. Auch die Auszahlung des Essensgeldes in Höhe von sieben Bolivianos (90 Cent), pro Mädchen und Tag stockt. Karina Klein und Milena Grieger wussten das bisher nicht. Hätten sie es gewusst, hätten sie wohl eher eingegriffen. Jetzt gehen Mutter und Tochter durch die Räume, sprechen mit den Vereinsfrauen, überreichen den Mädchen Mitbringsel aus Deutschland und sehen ihr Projekt gefährdet.

Das „Vida Digna“ ist in vielerlei Hinsicht einzigartig: Es ist Schutzhaus und Ausbildungsstätte in einem und bietet auch Familienhilfe an. Nicht nur Prävention, sondern konkrete Unterstützung. Die Strategie von „Plan International“ lautet hingegen: „Stärkung des Gemeinwohls, um die Grundrechte von Kindern auf Leben, Entwicklung, Schutz und Mitwirkung fördern.“ Das heißt: Prävention, nicht Aktion. Keine Einmischung in Staatsangelegenheiten, sondern Anschub, Unterstützung. „Bolivien hat zwar mittlerweile eine gewisse wirtschaftliche Stabilität erreicht, doch ist die Volkswirtschaft immer noch unterentwickelt, und die sozialen Probleme des Landes sind nach wie vor gravierend.“, begründet Plan seine Länderstrategie. Das Mädchenschutzhaus war daher für die in 51 Ländern tätige Organisation, die vor allem durch Patenschaften bekannt ist, eine ungewöhnliche Form der Förderung gewesen.

Auch der bolivianische Staat beteiligte sich an „Vida Digna“: Er stellte das Grundstück kostenlos zur Verfügung und finanziert das Essen. Doch seit die Person, die den Vertrag mit „Mujeres en Acción“ geschlossen hatte, nicht mehr da ist, fühlt sich in der staatlichen Bürokratie niemand mehr zuständig. Es ist auch nicht klar, warum sich Terre des Hommes Niederlande zurückgezogen hat. Terre des Hommes äußerte sich auf Anfrage nicht. Aber NGOs fühlen sich zunehmend unter Druck in Bolivien, seit 2014 die dänische Umweltorganisation IBIS des Landes verwiesen wurde.

Die Mädchen, die im Schutzhaus Zuflucht finden, stammen aus den Bergen. Da reichen die Gesetze des bolivianischen Staates nicht hin. Es gelten die Regeln der Männer: So wird eine Vergewaltigung mit acht Schafen abgegolten. Oder einer Kuh. Die Schwangerschaft eines Mädchens wird eher durch Zufall entdeckt – etwa wenn es mit Bauchschmerzen ins kommunale Gesundheitszentrum kommt. Oder wenn Nachbarn der Defensoría, der örtlichen Ombudsstelle, die auch Aufgaben eines Jugendamtes wahrnimmt, einen Missbrauch melden. Teenagerschwangerschaften sind normal in dieser Gesellschaft, in der sich über dreiviertel der Bevölkerung dem katholischem Glauben zuordnen und evangelikalen Strömungen anhängen.

Die Müttersterblichkeit ist durch die vielen Teenagerschwangerschaften nach wie vor hoch, illegale Abtreibungen gefährden die Gesundheit von Mädchen zusätzlich. Schwangerschaftsunterbrechungen bei Minderjährigen bedürfen der Genehmigung der Eltern und der Behörde. Das kann schon mal Monate dauern – da ist es zu spät für einen Abbruch. Zu Verhütungsmitteln haben vor allem Mädchen keinen Zugang. Würden sie in eine Apotheke gehen, um Kondome zu kaufen, würde es morgen das ganze Dorf wissen. In der Grundschule findet Aufklärung nicht statt. In den Privatschulen würden Kenntnisse über Sexualität und Verhütung unterrichtet, berichten die Vereinsfrauen. Doch die würden nur von zehn Prozent der bolivianischen Kinder besucht. Von Söhnen und Töchtern, deren Eltern, die das Geld dafür aufbringen können. Familien in den Bergen haben kein Geld. Vor allem die Mädchen aus dem Hochland, dem Altiplano, gingen selten länger als vier Jahre zur Schule.

Karina Klein ist eine Frau, die gern den Überblick behält und genau Bescheid wissen will. Schließlich hat sie einige zehntausend Euro eingebracht. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, denn sie arbeitete ihres Medizinstudiums in den 1980ern sieben Wochen lang auf einer Geburtsstation in Bolivien. Dort musste sie bei Geburten ständig improvisieren, konnten Hochschwangere keine Schmerzmittel, Antibiotikum oder auch nur einen Faden beisteuern. Das prägte ihren Blick auf die Lebensbedingungen von bolivianischen Frauen und Mädchen nachhaltig. „Dem Staat sind bis heute die Schicksale der Frauen und Mädchen egal. Stattdessen werden Fußballplätze in den Bergen gebaut.“, resümiert sie im Hinblick auf den fußballverrückten Regierungschef des Landes. Vor drei Jahren war sie zuletzt in dem Land, das seit 2006 von Evo Morales regiert wird, dem ersten indigenen Präsidenten des Landes. Mit der Genderbeauftragten von „Plan Bolivien“, Martha Liviera, entwickelte sie damals die Idee, vergewaltigten Mädchen eine Zuflucht zu bauen. Die Projektphase wurde auf drei Jahre festgelegt. Sie läuft im Januar 2017 aus.

Lourdes Aquiliar leitet das Haus. Sie versteht es als vorübergehenden Aufenthaltsort für die Mädchen. Sie sollen selbstständig werden, den Schulabschluss machen und möglichst in ihre Familien zurückkehren: „Einmal in der Woche können die Mütter der Mädchen zu Besuch kommen. Aber nur, wenn sie klar auf ihrer Seiten sind“, sagt sie. Auch der erste Besuch wieder Zuhause fände nur in Begleitung statt. Nüchtern betrachtet sieht die Lage oft trostloser aus: „Niemand will diese Mädchen. Sie sind stigmatisiert, gelten als Schande, als seien sie selbst Schuld.“, und sie erzählt von einer 14-jährigen, die vom Partner der Mutter geschwängert wurde. Damit er nicht ins Gefängnis musste, zwang die Mutter sie, den Vergewaltiger zu heiraten. „Drei Jahre dauerte die Annullierung der Ehe, solange war sie bei uns. Der Mann sitzt heute im Gefängnis.“ Aquilars Ziel ist, dass die Mädchen lernen, unabhängig zu leben. “Jedes Mädchen bekommt auch ein eigenes Konto.

Der Verein wirkt nicht nur caritativ, sondern gesellschaftspolitisch: Er wirkte daran mit, dass der 9. August jährlich zum Tag gegen Gewalt an Kindern und Jugendlichen ausgerufen wurde. Finanziell sind – auch angesichts klammer Kassen der Kommunen – die Forderungen der Feministinnen bescheidener geworden. Anfangs wollten sie ein Familienzentrum. Jetzt verlangen sie, dass wenigstens die Defensoría personell aufgestockt wird. Eine schnellere Bearbeitung von Abtreibungsgenehmigungen wäre die Folge, ein besserer Blick auf die Situation von Frauen und Mädchen in den abgelegenen Höfen und Dörfern im Hochland. „Die Gesetze zum Schutz der Mädchen sind gut und ausreichend,“ sagt Lourdes Aquilar. „Aber sie können nicht vollzogen werden, der Staat stellt nicht genügend Personal ein.“ Sie wünscht sich nun, dass wenigstens die Ernährung der Mädchen weiter finanziert wird.“ Damit Geld in die Kassen kommt, will der Verein zudem einen Kindergarten nach dem Montessori-Konzept errichten, der auch Kinder aus der Umgebung aufnimmt. Die Einnahmen sollen das Mädchenhaus querfinanzieren.

„Ich finde viel Unterstützung“, erzählt die 13-jährige Maria**, die wie 18 aussieht. „Früher war ich schüchtern und ruhig. Heute kann ich Schmuck anfertigen, kochen, Brot backen, Tüten für Weinflaschen kleben. Ich habe gelernt, mit Geld umzugehen. Ich verdiene etwas, ich spare. Niemand soll mir mehr sagen können, was ich zu tun und zu lassen habe.“ Und etwas eingeübt fügt sie hinzu: „Ich habe mich mit mir auseinandergesetzt. Ich bin dankbar, dass ich hier sein kann.“ Dann stockt ihre Stimme, Tränen laufen ihre Wangen herab. „Ich danke meiner Erzieherin, ich will für mein Leben kämpfen.“ Was sie in drei Jahren machen möchte, wenn sie die Schule fertig hat, weiß sie nicht. Vielleicht Architektur studieren. Sie mag auch Kunsthandwerk. „Die Mädchen lernen, über sich zu sprechen.“, sagt Lourdes. „Das ist wichtig für ihr Selbstbewusstsein. Wir sind ist ihre Familie, sie haben Vertrauen zu uns. Diese Stabilität erleben sie erstmals bei uns.“

Karina Klein und ihre Tochter Milena würden am liebsten sofort Geld organisieren, um die Personalkosten zu stemmen und das Essen zu finanzieren. Es wären nur circa 20.000 Euro im Jahr. Ihre Stiftung hat viele Helferinnen in Deutschland, über Spenden könnte der Betrag vielleicht zusammen kommen. Aber: Wie lange soll sich der Staat noch seiner Verpflichtung entziehen? Wäre jetzt nicht die beste Gelegenheit, gegenüber der Regierung Druck auszuüben? Die Plan-Strategie ist klar: „Das Programm hat zum Ziel, sowohl die staatlichen als auch die gesellschaftlichen Institutionen zu stärken, dass sie eine kinder- und jugendfreundliche Politik umsetzen und sich ihrer Verantwortung für den Schutz der Rechte von benachteiligten Bevölkerungsgruppen bewusst werden.“ Karina Klein ist skeptisch: „Selbst wenn der Staat mehr Geld hätte, würde er es für anderes ausgeben, als für diese Mädchen. Sie werden immer Unterstützung brauchen.“

Karina Klein und Milena Grieger wollen weiter dafür kämpfen, dass das „Vida Digna“ bestehen bleibt und ausgebaut wird. Wenn ihr Projekt ausläuft, wollen sie mit dem Kinderhilfswerk ein Anschlussprojekt starten. Erste Verhandlungen laufen. Es soll den Bau einer zweiten Etage und die zumindest zeitweise Übernahme von Personalkosten beinhalten. Ein kleiner Schritt für die Hilfsorganisation wäre von großer Bedeutung für die Kindsmütter in Tarjita.

Wo die Grenzen der Hilfe aus Deutschland verlaufen, wissen die beiden Stifterinnen außerdem gut: „Zwei Mädchen haben mich gefragt, ob wir sie mit nach Deutschland nehmen können“, erzählt Milena Grieger. „Das wäre natürlich keine Lösung. Dann helfe ich zwei Betroffenen. Und was ist mit den anderen?“

Geld ja, Einmischung nein, lautet das Prinzip der Frauenorganisation „Mujeres en Acción“. Das findet auch Karina Klein: „Das Konzept basiert auf jahrelanger Erfahrung und darf nicht aus der Hand gegeben werden. Der Erfolg beruht auf Selbstbestimmtheit und Autonomie.“ Und das sei schließlich auch genau das, was die Mädchen für ihre Zukunft benötigen.

EPILOG: Mittlerweile hat Plan International beschlossen, die Beteiligung an dem Projekt fortzusetzen und die Finanzierung für die zweite Etage des Mädchenhauses zu realisieren.


* = Anfang Juni habe ich auf Einladung von Plan International die beiden Stifterinnen Dr. Karina Klein und Milena Krieger nach Bolivien begleitet. Mehr über die Arbeit von Plan Bolivien und die Möglichkeit, eine Patenschaft abzuschließen hier

Alle mit ** gekennzeichneten Namen sind geändert.

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