Die Liedermacherin

img_5297„Gesang existiert in sehr unterschiedlichen Formen und umfasst ein weites Spektrum an klanglichen und musikalischen Möglichkeiten von völlig frei aneinander gereihten Vokalen in unterschiedlicher Tonhöhe, Lautstärke, Rhythmus und Klanggepräge über liedhaften, volkstümlichen Gesang bis hin zum virtuos verzierten Kunst-Gesang. Dabei orientiert sich Gesang häufig entweder an einer für eine entsprechende Zeit, eine entsprechende Kultur oder für einen bestimmten Musikstil üblichen Klangästhetik.“, heißt es auf Wikipedia. Ich habe lange nicht mehr richtig gesungen. Und fange jetzt wieder damit an.

Allenfalls zum Abschluss von Parteitagen singe ich „Die Internationale“ oder am Ende eines Gewerkschaftstages „Brüder (Geschwister) zur Sonne, zur Freiheit“. Wird bei offiziellen Hamburger Terminen „Stadt Hamburg an der Elbe Auen“ angestimmt, murmele ich den Text allenfalls vor mich hin. Wann singen Menschen am liebsten? Ich habe eine Antwort darauf gefunden.

Heute waren wir spazieren. Wir schoben den Kinderwagen am Kaifu entlang. Eigentlich sollte der kleine Mann, der darin lag, schlafen, aber was um ihn herum passierte, war viel interessanter. Er reckte den Kopf hoch.

Wenn mein Enkel unzufrieden ist, fängt er an, vor sich hin zu brabbeln. Zunächst ist das noch ganz verträglich, so, als wenn er redet. Das kann aber so laut werden, bis es sich wie Motzen anhört. Wenn man dann immer noch nicht das Richtige macht, wird er richtig ärgerlich. Soweit wollten wir es heute nicht kommen lassen. Das Kind soll doch schlafen, statt weinen. Meine Geheimwaffe ist mein Smartphone. Vorgestern war der Lütte augenblicklich eingeschlafen, als ich es zu ihm in den Wagen legte und er die Musik von Rosenstolz hörte. Heute klappte das nicht. Er lauschte nur ein klein wenig, wurde dann wieder unruhig. Robbie Williams gefiel ihm nicht viel besser.

Also habe ich ihn auf der Höhe des Spielplatzes aus dem Wagen genommen und und den Arm genommen. Das war spannend. Eine neue Perspektive, neues Gucken. Dann kam aber wieder leichtes Nörgeln aus ihm heraus. „Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn das kleine Baby schlafen geht, lalelu“, begann ich leise zu singen. Lalelu, lalelu, dudelidudelidu. Das Nörgeln hörte auf.

Ich war froh, dass mir niemand außer meinem Mann zuhörte, was ich an weiteren Textelementen erfand. Wir setzen uns zur Sicherheit weit weg von anderen SonntagsspaziergängerInnen mit dem Kleinen auf eine Bank, die direkt am Spielplatz stand. Ich sang weiter. Kein Lalelu mehr. Eine mir fremde Melodie kam aus mir heraus. Der Text wurde eine Erzählung darüber, was mein Enkel auf dem Spielplatz einmal machen wird. Auf der Rutsche flitzen, auf dem Boot mit anderen Kindern spielen. Manchmal wiederholte ich die Sätze, weil mir nicht einfiel, wie die Geschichte weitergehen kann. Fünfmal, zehnmal. Ein Refrain!

Mein Enkel hing über meiner Schulter. Still war er, entspannt. Eine leichte Brise zog unter den Bäumen vorbei, die über uns ein Dach bildeten. Die Luft war warm, am Kaifu war es friedlich. Wir saßen gemütlich auf der Bank und genossen den Sommersonntagnachmittag.

„Meepmeep.“ Ein Whatsapp blinkte auf meinem Smartphone. Meine Tochter fragte, ob ihr Sohn noch meckert oder schon schläft. „Kersten singt Lieder, die er nicht kennt“, bekam sie als Antwort. Ich kannte diese Lieder bislang aber auch nicht. Wir machen uns auf, circa zehn Minuten dauert der Heimweg. So lange muss mein Gesang den Kleinen noch beruhigen, wenn er schon nicht schlafen will. Ich singe weiter, die Texte werden albern. „So müssen Lieder entstehen“, sagte mein Mann. Ich dachte an Quatsch-Reime, einen von Pippi Langstrumpf zum Beispiel: „Drei mal drei macht sechs widdewiddewidd und drei macht neune. Ich mache mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt.“ Wie war er entstanden? Astrid Lindgren hatte die Pippi-Geschichten in den 1940er Jahren für ihre Tochter Karin erfunden.

Ja, so entstehen gute Lieder. Nur habe ich mir meine Erfindung von heute Nachmittag nicht gemerkt. Sie ist in die Ohren meines Enkels gelangt, hat dort Wirkung entfaltet und damit ihren Sinn erfüllt. Auf dem Rückweg ist mir ein Lied eingefallen, das ich mal kannte. „Sie sind grühüün, doch sie malten sich rot an“, fällt mir lediglich als Textfragment ein. Knut Kiesewetter hat den Ohrwurm 1972 gesungen, lese ich später nach.

Ich bin gespannt, was noch alles aus mir hervor kommt, wo ich jetzt unter die Liedermacherinnen gegangen bin.

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