Es ist ein Tag vor seinem ersten Geburtstag. Morgen zur Geburtstagsfeier kommt viel Besuch, da soll die Wohnung blitzen. Ich habe mich bereit erklärt, mit meinem Enkel gleich spazieren zu gehen, damit der Putz zügig erledigt werden kann. Es wäre eine angenehme Pflicht, wenn nicht der Hamburger Niesel wäre, der die Schanze in eine nassgraue Kulisse verwandelt.
Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung!, rede ich mir den typischen Hamburger Schnack ein. Große Lust habe ich trotzdem nicht, mit dem Kinderwagen rauszugehen. Es wäre schöner, mit meinem Enkel auf dem Fußboden zu sitzen, Klötze zu stapeln, Musik zu hören und Grimassen zu ziehen.
Erst essen wir noch zusammen. Der Kleine futtert mit Appetit. Sein Kinderbesteck nimmt er schon richtig in die Hand und manchmal gelingt es ihm sogar, mit der Gabel ein Stück Kartoffel aufzuspießen und es in den Mund zu schieben. Die Einzelteile des Arrangements auf dem Teller werden umsortiert. Die Bohnen werden auf den Tisch (ab-)gelegt und nach einem eigenen Muster geordnet. Der Rest wird aufgegessen. Kaum etwas fällt hinunter.
Dann bekomme ich ein in einen Schneeanzug verpacktes Kind in den Arm gedrückt, eine Windeltasche, ein Wasserfläschchen. Tschüs!
Wir ziehen durch den Schanzenpark hin zu Planten un Blomen. Ich freue mich schon jetzt auf den Frühling, wenn es blüht und Grün wieder zur Hauptfarbe der Anlage geworden ist. Es ist wenig los auf den Straßen. Aber es laufen erstaunlich viele Joggerinnen und Jogger durch den Regen. Meinen Enkel stört das Wetter nicht. Aber er möchte sich bewegen und wirkt unzufrieden in seinem Wagen.
Das erste Café, das wir ansteuern, ist zu voll für einen Kinderwagen. Das zweite Café passt zu uns. Wir kehren ein, packen uns aus. Am Nachbartisch haben die Erwachsenen drei kleine Kinder auf dem Schoß, zwei sind kleiner als mein Enkel, das dritte ist c.a. eineinhalb Jahre alt. Wie interessant! Andere Kinder! Was machen sie? Warum weint das eine? Mein Enkel schaut aufmerksam hinüber. Dann findet er den Milchschaum auf dem Kaffee und den Früchteriegel, den ich ihm anbiete, wichtiger.
Schließlich bewegt er sich durch das Café – krabbelnd und an Stühlen und Tischen gestützt auch auf seinen Füßen. Überhaupt ist das die spannende Frage: Wann fängt er an, zu laufen? Also, ohne jede Hilfe, freihändig?
Seit einigen Wochen übt er den aufrechten Gang. Einige wenige freie Schritte hat er schon gemacht. An einer Hand läuft er bereits, wenn auch noch wackelig. Er macht es spannend. Denn natürlich ist es ein enormer Entwicklungsschritt, laufen zu können!
Inzwischen hat er viele Finnessen entwickelt, sich fortzubewegen, auch mit Gegenständen in den Händen. Es sind wohl eh nur die Erwachsenen, denen es wichtig ist, dass das Kind endlich läuft. Und es weiß ja selbst nicht, dass es bald, Morgen oder Übermorgen oder nächste Woche, laufen kann. Es strebt zwar danach, aber nicht bewusst. Es übt seine Muskeln, aber ohne Motiv. Es hat Spaß daran, stärker zu werden und mit jedem Tag Üben wird der Körper kräftiger.
Wird das Laufen etwa gar nicht gelernt, sondern ist es vielmehr nur eine weitere Etappe in der Entwicklung körperlicher Fähigkeiten wie das Zahnwachstum oder das gezielte Greifen? Ist ein geheimer Code in jedem Kind, der das Laufenlernen – im Gegensatz zum Sprechen – programmiert? Ist der genaue Zeitpunkt, der entscheidende Schritt, vorbestimmt?
Ich gewinne auch bei dem dritten Kind, das ich beim Aufwachsen erleben darf, wieder den Eindruck, dass es ausschließlich das Bedürfnis nach Selbstständigkeit ist, dass es antreibt, laufen zu lernen. Ich wünsche meinem Enkel, dass er den für sich richtigen Zeitpunkt wählt.
Meine Kinder haben sich das Laufenlernen sehr unterschiedlich erschlossen: Mein Sohn lief einen Tag vor seinem Geburtstag einfach los. Meine Tochter lief zwar schon vor ihrem ersten Geburtstag, fand dann aber das Krabbeln wochenlang wieder ausreichend. Diese verschiedenen Lernweisen haben beide in ihren Charakterzügen beibehalten. Mein Sohn entwickelte seine Autonomie stets über Bewegung. Er fuhr früh Dreirad, fährt gern Rad und ist ein sehr guter Autofahrer. Meine Tochter hat ihre Autonomie über Logik gewonnen: Selbst etwas kaufen können war für sie bereits als Kleinkind wichtig. Es waren die Prinzipien des Tauschgeschäfts auf Augenhöhe, das sie schnell begriffen hatte. Beispielsweise wusste sie auf dem DOM genau, an welchen Buden es immer einen Trostpreis gab, während mein Sohn vor allem die Fahrgeschäfte favorisierte. Bei beiden war am Ende das DOM-Geld, damals zehn Mark pro Kind, alle, aber sie hatte ihre Jackentaschen voller Mini-Plüschtiere und billigem Plastikspielzeug.
Morgen feiern wir den ersten Geburtstag meines Enkels. Es ist der wichtigste Geburtstag für die Eltern. Das erste Jahr, das anstrengendste von allen, ist vorbei. Ich gratuliere meiner Tochter und meinem Schwiegersohn aufs Herzlichste – ihr habt das toll gemacht!
Ein schöner Familien-Bericht 🙂