Der Terror des IS ist in der muslimischen Welt alltäglich

1901130_1050650594955209_5199516427990778232_nGastbeitrag von Mustafa Yoldaş

Liebe Hamburgerinnen und Hamburger, Liebe Freundinnen und Freunde, Liebe Geschwister,

Ich spreche zu Ihnen im Namen der beiden islamischen Religionsgemeinschaften Schura und der DITIB. Zusammen repräsentieren wir 46 Moscheegemeinden in Hamburg.

Wir sind hier und heute zusammen gekommen, um der vielen Toten zu gedenken, die der teuflische Terror der Mörderbande des so genannten „Islamischen Staates“ in Paris, Beirut, Ankara und anderen Orten in den letzten Tagen gekostet hat. Unsere Bittgebete widmen wir den Toten, unsere große Anteilnahme gilt ihren Angehörigen und den Verletzten.

Wir sind aber auch zusammen gekommen, um ein Zeichen zu setzen für Geschlossenheit, für Einheit, für Brüderlichkeit und für den Frieden in unserem Land, in Europa, in der Welt. Nichts brauchen wir derzeit so sehr wie den Frieden in der Welt. Denn ohne Frieden ist alles andere in Gefahr: unser Zusammenleben, unser Leben, unsere Lebensart, unsere Freiheit, unser Wohlstand.

So groß unsere Wut gegen den IS auch ist, so besorgt sind wir über die aktuelle Kriegsrhetorik vieler Staaten. Wenn bei Militärangriffen nur die Terroristen neutralisiert würden, wäre das legitim, aber erfahrungsgemäß kommen unverhältnismäßig viele Zivilisten ums Leben, was den Zulauf zum IS wiederum verstärken dürfte.

Gemeinsam bilden und gestalten wir hier in unserer Hansestadt eine weltoffene, bunte, pluralistische Gesellschaft. Dies ist nach islamischer Lehre Gottes Wille und Gottes Gebot, dies ist unser zivilisatorischer Reichtum. Und dies ist genau das Gegenteil von dem einfältigen und vorzivilisatorischen Lebensmodell, das dem IS vorschwebt.

Ich kann Ihnen versichern, dass die überwältigende Mehrheit der Hamburger Muslime, ja der deutschen Muslime, es hundertmal mehr vorzieht, in dieser bunten Gesellschaft mit Christen, Juden, Buddhisten, Hindus, Yeziden und Atheisten zusammen zu leben als unter dem höllischen Joch des anti-islamischen IS.

So sehr uns die Anschläge in Paris berührt haben, weil wir in Europa leben, so allgegenwärtig und leider fast alltäglich ist der Terror des IS & Co. in vielen Teilen der muslimischen Welt: in Ankara, in Suruc, in Beirut, in Aleppo, in Tunis und an vielen anderen Orten. Im pakistanischen Peschawar wurden vor knapp einem Jahr 130 Schulkinder durch die Taliban ermordet. Bereits damals hätte es weltweit einen Aufschrei geben müssen. Damals hätten wir ausrufen sollen: Ich bin Pakistaner! Leider sind wir in Bezug auf den Terror in der muslimischen Welt mittlerweile so sehr abgestumpft, dass wir es als „normal“ betrachten, wenn dort täglich Dutzende Menschen in die Luft gesprengt und ermordet werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Opfer des IS-Terrors Muslime sind. Davon zeugen z.B. auch die Tausenden von syrischen Flüchtlingen, die zu uns kommen, weil sie – aufgerieben zwischen dem Terror des syrischen Regimes und dem IS – fast alles verloren haben.

Und so schwer es in diesen Tagen auch fallen mag, wir müssen in diesen Tagen auch selbstkritisch sein. Der IS ist nicht vom Himmel gefallen. Dieses Monster ist in dem Machtvakuum gewachsen, den der unsägliche, völkerrechtswidrige und auf Lügen konstruierte letzte Irak-Krieg durch George W. Bush hinterlassen hat und dem 1,2 Mio. Menschen im Irak zum Opfer gefallen sind.

Die Gewalt des IS kann selbstverständlich nicht mit diesem unsäglichen Krieg gerechtfertigt werden. Dennoch müssen wir uns in unserem Eigeninteresse aufrichtig fragen, ob unsere außenpolitischen Ansätze die richtigen waren und sind. Und gerade weil wir Europäer vor einer der größten Herausforderungen unserer Zeit stehen, lassen sie mich auch das hier sagen:

Auch durch unsere egoistische Wirtschaftspolitik zerstören wir häufig die Existenzgrundlagen vieler Menschen und wundern uns dann darüber, wenn diese Menschen plötzlich an unserer Tür klopfen. Diese Menschen fliehen nicht, sie flüchten nicht. Diese Menschen laufen vielmehr ihrer menschlichen Würde hinterher, die wir ihnen mit unserer kurzsichtigen und oft maßlos profitorientierten Politik geraubt haben.

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir dürfen keinen Unterschied machen zwischen dem Leid der Mütter von Paris und der Mütter in Beirut oder Ankara. Mord ist Mord, Leid ist Leid, Schmerz ist Schmerz, Menschen empfinden dies überall gleich. Wenn wir ein ernsthaftes Interesse an einem gerechten Frieden auf der Welt haben, dann müssen wir überall die gleichen Maßstäbe ansetzen. Menschenfeindlichen, absolutistischen und rassistischen Ideologien und Bewegungen müssen wir überall mit der gleichen Entschiedenheit begegnen.

Erst wenn wir glaubhaft zeigen können, dass die Würde eines Amerikaners soviel Wert ist wie die eines Irakers, die eins Muslims wie die eines Christen, die eines Palästinensers wie die eines Israelis, die eines Schwarzen wie dies eines Weißen, die eines Franzosen wie die eines Arabers, erst dann dürfen wir uns Hoffnung auf einen gerechten Frieden in der Welt machen.

Doch, auch wir Muslime dürfen das Versagen der muslimischen Welt in Bezug auf Demokratisierung, Menschenrechte, Bildung, Wissenschaft und Modernisierung nicht immer auf den Westen mit seinen Kreuzzügen und seiner Kolonialgeschichte schieben.

Das wäre viel zu kurz gedacht. Auch wir Muslime müssen uns selbstkritisch mit schändlichen Entwicklungen in unseren Herkunftsländern und in einigen unserer Gemeinschaften hierzulande auseinander setzen.

Ich will dies hier kurz tun und denen, die im Glauben sind, der IS handele nach den Geboten des Islam, beweisen, dass der IS, der sich auf den Islam beruft, in seinem Kern eine zutiefst anti-islamische, kriminelle Bewegung ist.

Der Islam erzieht den Menschen zum Frieden und zur Gerechtigkeit. Die Ideologie des IS ist das absolute Gegenteil davon. Der IS steht für Gewalt, Krieg, Hass und Blutvergießen. Der IS vergewaltigt die Lehren des Islam.

„Gott liebt diejenigen, die Gutes tun.“ (2:195).

„Richtet auf Erden kein Unheil an.“ (2:60).

„Stiftet Frieden unter den Menschen.“ (2:224).

Das sind zentrale Verse aus dem Quran. Gegen diese Lehrsätze verstößt der IS jeden Tag.

Unser Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sagt in einer Überlieferung:

„Hass und religiöse Überzeugung können nicht in derselben Brust verweilen.“ Der IS ist die Verkörperung von Hass.

In einer anderen Überlieferung antwortete der Prophet auf die Frage, was einen Muslim zum Muslim macht:

„Der Muslim ist derjenige, vor dessen Zunge und dessen Hand die Menschen sicher sind.“ Vor den Mörderbanden des IS ist kein Mensch sicher, kein Jude, kein Christ, kein Muslim, kein Mensch, der sich nicht ihrer todbringenden Gesinnung anschließt – das erfahren wir jeden Tag.

Blickt man auf das Ergebnis ihrer kriminellen Taten des IS, so leidet das Ansehen des Islam weltweit darunter. Der IS erweist dem Islam einen Bärendienst. Schaut man auf das Ergebnis der Terroranschläge in Europa, so erfahren die nationalistischen, faschistischen und islamfeindlichen Parteien und Bewegungen einen enormen Auftrieb. Jetzt fordern einige Politiker sogar Ausgehverbote für Muslime und schlagen andere abstruse Maßnahmen vor. Man möchte fast denken, dass der IS Wahlkampf für die Rechten in Europa betreibt.

Wir müssen uns gemeinsam den siamesischen Zwillingen des Hasses, dem IS und den Rechtsradikalen in Europa, entgegen stellen. Beide vergiften unser gesellschaftliches Klima. Sie spalten und polarisieren unsere Gesellschaft.

Den Mörderbanden des IS und seinen Sympathisanten will ich folgendes sagen:

„Meine Religion ist ein Diamant. Diesen habt ihr gestohlen. Ich werde ihn euch nicht überlassen, kein Muslim wird ihn euch überlassen! Ein Diamant bleibt ein Diamant, auch wenn er in falsche Hände gerät. Ihr missbraucht den Islam für Eure diabolische Ideologie. Wendet euch ab von diesem Irrweg. Kehrt zurück zum Islam. Lasst ab vom Weg, der euch geradewegs in die tiefste Hölle führt! Wer seinen Mitmenschen eine Hölle auf Erden bereitet, den erwartet im Jenseits nicht das Paradies.“

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir alle müssen in diesen Tagen wachsam und aufmerksam sein. Ja, wir werden auch Abstriche von lieb gewonnenen Gewohnheiten machen müssen, wie bereits gestern in Hannover geschehen. Womöglich werden wir auch andere Opfer bringen müssen.

Aber wir sind fest entschlossen, das Vertrauen, die Verbundenheit, die Freundschaft, die gute Nachbarschaft, den gesellschaftlichen Frieden – alles, was wir in dieser schönen Stadt, in diesem schönen Land miteinander mühevoll aufgebaut haben – mit allen Mitteln zu verteidigen. Für keinen Preis der Welt dürfen wir unsere wertvollen Errungenschaften einer Handvoll Verbrechern und ihren Schmarotzern vom rechtsradikalen Rand überlassen.

 * Mustafa Yoldaş hat mir den Text freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Er hat die Rede auf der Kundgebung in Hamburg am 18. November 2015 gehalten, die von einem breiten Bündnis veranstaltet wurde, um gegen den Terror des IS ein Zeichen zu setzen.

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