Ich war in der 6. Klasse, als ich bei einer Schulkameradin zum Übernachten eingeladen gewesen war, also war ich elf oder schon zwölf Jahre alt. Mit mehreren Mädchen wollten wir im ausgebauten Keller in Doris’ Elternhaus schlafen. Der Weg dorthin war ziemlich weit. Sie wohnte in einem anderen Stadtteil als ich. Ich fuhr mit dem Fahrrad aus Oberneuland raus, die Franz-Schütte-Allee entlang. Diese Straße führt zwei Kilometer lang ohne eine einzige Kurve nach Bremen rein. Sie hat zwar auf der einen Seite eine Weg für Fußgänger und Radfahrer, doch eigentlich ist sie eine Autostraße.
Ich hatte eingepackt, was man für einen Mädchennacht wie diese benötigt. Wechselkleidung, Schlafzeug, Zahnbürste und -pasta. Das hatte ich auf den Gepäckträger geklemmt. Es war meine erste große Fahrradtour allein, auch wenn ich schon lange mit dem Rad allein in die Schule fuhr – das Gymnasium lag immerhin auch knapp vier Kilometer weit entfernt von meinem Zuhause. Doch fuhr ich dann nur an belebten, bewohnten Straßen. An der Franz-Schütte-Allee stand kein Haus. Auf der einen Seite war mal der städtische Tierpark gewesen. Die Fläche lag schon lange brach.
Angst vor der langen, einsamen, Radtour hatte ich nicht. Ich war sowieso ein angstfreies Kind, bis auf einige Alpträume hatte ich in meinem Leben noch keine Angst kennengelernt. Keine richtige Angst. Angst, die dich erschüttert, die die nachhaltig lähmt, die dich verfolgt, die dich klein macht. Ich liebte vielmehr den Grusel. Ich mochte Horrorgeschichten wie Frankensteins Monster. Kinder lieben es schaurig, da war ich keine Ausnahme. Das ist ja eine Art Angstlust, die ich als Kind kontrollieren kann, weil Filme und Bücher immer ein Ende haben. Und weil ich mich dem freiwillig aussetzen konnte – oder auch nicht. Und weil literarische und filmische Monster fast immer auch ein menschliches Antlitz hatten.
Es war helllichter Tag, als ich losfuhr. Meine Eltern hatten keine Einwände gehabt. Sie haben mich immer viel selbst entscheiden und ausprobieren lassen. Ich musste auch kein Versprechen geben, anzurufen, wenn ich angekommen war.
Ich brachte die Franz-Schütte-Alle gut hinter mich und war nun in der Vahr, Bremens großes Neubaugebiet, vielen bekannt aus Sven Regeners “Neue Vahr Süd”. Ich fuhr weiter nahe den an mir vorbei brausenden Autos auf dem Fahrradweg – der durch Büsche von der Fahrbahn auf der einen Seite und durch Büsche vom Wohngebiet auf der anderen Seite abgeschirmt war. Ein ebenso kurvenfreier, durchasphaltierter, Weg.
Von weitem sah ich einen Radfahrer auf mich zu fahren. Es war der einzige auf der gesamten Strecke bislang und ich war bestimmt schon eine halbe Stunde lang unterwegs. Als ich näher kam, bemerkte ich, dass er nicht fuhr, sondern mit seinem Fahrrad auf dem Weg stand. Er war älter als ich, 16 oder 17 Jahre alt, hatte kurze dunkle Haare, ein ganz normaler Junge. Er schaut mich an, freundlich fand ich, auf jeden Fall unauffällig. Ich fuhr an ihm vorbei. Das heißt, ich wollte an ihm vorbei fahren. Auf seiner Höhe angekommen, legte er seine Hand auf meinen linken Oberschenkel.
Ich spürte Angst – zuerst auf meiner Zunge. Sie war scharf, bitter und kribbelte. Ich schrie umgehend. So, wie ich in meinem Leben noch nie geschrien habe – stieß ich ein spitzes “Mannooooo!” aus. Aus dem unauffälligen, freundlichen Blick wurde ein Grinsen. Der Junge sprach nicht. Er schaute nur. Und grinste. Ich trat in die Pedale und fuhr, so schnell ich konnte, weg. Schaute mich nicht um. Halte keine Luft. Drückte die Füße immer kräftiger herunter, damit mein Fahrrad Tempo bekam. Verfolgt er mich? Sind noch weitere Jungen in den Büschen? Nur noch weg, war jetzt das einzige, was wichtig war.
Gehetzt und verschwitzt kam ich bei Doris an. Ich versuchte, zu erzählen. Doch was war eigentlich passiert? Da stand ein Typ, an dem musste ich vorbei, dann hat er seine Hand auf meinen Oberschenkel gelegt und dabei gegrinst. Ich habe geschrien. Dann bin ich weiter gefahren. Mehr gab die Geschichte nicht her. Als ich sie erzählte, hörte sie sich weder dramatisch an noch konnte ich meine Angst beschreiben. Fehlte die Dramatik, weil ich sie nicht nochmal durchleben wollte? Schämte ich mich? Fühlte ich Schuld, weil ich ja unbedingt alleine mit dem Fahrrad loswollte? Ich weiß es nicht mehr.
Der Keller war mit Matratzen und Decken ausgelegt. Doris’ Mutter hatte uns Schnittchen gemacht, die wir in unseren Schlafanzügen auf dem Boden sitzend gefuttert haben. Kein Gedanke verlor ich mehr an den grabschenden Jugendlichen.
Es war jedoch unvorstellbar für mich, die Strecke nochmal zu fahren, eben zurück nach Hause. Ich rief meine Eltern an und bat, abgeholt zu werden. Ich hatte erzählt, was passiert war und hatte wieder den Eindruck, dass es sich nicht schlimm anhörte. Sondern das vielmehr der Eindruck entstanden sein musste, ich sei zu bequem, den Weg zurück ebenfalls mit dem Fahrrad anzutreten. Mal wieder hatte ich eine zu große Klappe gehabt. Mein Vater kam mit dem Auto und lud mein Fahrrad ein. Ich durfte auf den Fahrernebensitz, statt nach hinten.
Ich bin die Strecke in meinem ganzen Leben nie wieder mit den Fahrrad gefahren. Und bis heute, wenn ich mit dem Auto die Strecke entlang fahre, erinnere ich mich an diesen Vorfall. Und sehe das Grinsen des Jungen. Und fühle meine Angst, schmecke sie, höre mich schreien.