Veröffentlicht im FREITAG, 7. Oktober 2016
Wenn nur die Akten noch da wären. Wenn wenigstens die Zeitzeugen reden würden. Es wäre so viel leichter zu erklären, wie deutsche Gerichte auch nach 1945 Unrecht gesprochen haben. Es würden endlich mehr Stimmen laut, die von den Ermittlungen, Verhaftungen und Gefängnisaufenthalten berichteten. Doch die alten Männer schweigen. Sie schweigen, obwohl die Verfolgungen und Bestrafungen aufgrund homosexueller Handlungen 30, 40 oder 50 Jahre her sind. Die nach Paragraph 175 Verurteilten sprechen nicht öffentlich, weil sie immer noch Angst vor Ächtung haben. Oder weil sie eine Frau geheiratet hatten, Kinder und Enkel haben. Und weil sie sich einige immer noch nicht trauen, zuzugeben, dass sie schwul sind.
„Fehler korrigieren“
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) hat nun ein Gesetz angekündigt, das die Verurteilten rehabilitieren soll. Es soll das aus dem Jahr 1935 stammende Nazirecht endgültig zu Unrecht erklären und wenigstens den jetzt noch Lebenden Würde und Anerkennung zurückgeben. Mehr noch: Sie sollen entschädigt werden. „Der Rechtsstaat müsse seinen eigenen Fehler korrigieren“, sagte Maas auf dem Deutschen Juristentag Mitte September. Grüne und Linke fordern seit langem, dass die nach Nazirecht gesprochenen Urteile nach 1945 aufgehoben werden. Offen ist aber, ob auch CDU und CSU dem Gesetz zustimmen.
Gottfried Lorenz hat mit vielen der verurteilten Männer gesprochen, deren Leben durch den Paragraph 175 auf ewig verändert wurde. Der ehemalige Lehrer hat sie mit seiner freundlichen Art versucht zu überzeugen, dass ihnen heute nichts mehr passieren kann. Und dass es gut tun kann, zu reden. Vergebens. Dabei ist Lorenz, 76 Jahre alt, selbst einer von ihnen. Er hat erlebt, wie es ist, wegen der sexuellen Veranlagung ins Visier der Polizei zu geraten. Wie es ist, wenn mit einem Mal die ganze Identität in Frage steht, weil die eigenen Bedürfnisse mit den äußeren Normen nicht im Einklang stehen.
Es war 1965. Lorenz hatte in der Nähe des Saarbrücker Hauptbahnhofs einen Mann kennengelernt. Lorenz war 25 Jahre alt, schrieb an seiner Doktorarbeit. Der Mann wirkte sympathisch. Lorenz wusste aber auch: Der Lust jetzt nachzugeben, würde unter durch die Nazis verschärfte Fassung des Paragraphen 175 fallen. Es stand nicht nur Beischlaf, sondern sämtliche „Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe. Unter Juristen wurde seit langem die Abschaffung des „Schwulenparagraphen“ diskutiert. Auch in den damals durchaus zahlreich vorhandenen Schwulenkneipen und dem einzigen noch vorhandenen Schwulenmagazin Der Weg. Doch die Bundesregierung dachte nicht daran, das Nazirecht endlich zu beenden.
Lorenz fuhr mit dem neuen Bekannten in ein Waldstück. „Mehr passierte dann nicht.“ Stattdessen verlangte der Fremde von ihm auf einmal Geld, Ausweis und Hausschlüssel. Lorenz weigerte sich, rief Anwohner um Hilfe – und die Polizei. Er wusste, was das für ihn bedeutete. Er wusste aber auch: Er würde straffrei bleiben, weil er eine Straftat anzeigt. Auf dem Präsidium wurde er erkennungsdienstlich behandelt, es wurden Fotos geschossen, Fingerabdrücke genommen. „Der Beamte, der das machte, war schon älter und sagte, er habe sich mit dem Thema beschäftigt. Es fiel keine dumme Bemerkung, kein zotiger Witz. Der Mann machte seine Arbeit. Besonders das Fingerabdrucknehmen empfand ich aber als schlimme Sache.“ Als Demütigung.
Lorenz ist heute pensionierter Studiendirektor. Er neigt beim Erzählen nicht zu drastischen Worten. Dennoch sagt er über die Wochen danach, sie seien die Hölle gewesen: „Ich war drauf und dran zu sagen, das war’s. Bis zu dem Gefühl, mich umzubringen. Es war die größte Krise in meinem Leben.“ Dabei geriet er an einen Polizeibeamten, der sich ihm gegenüber korrekt verhielt. Wie muss es erst Männern gegangen sein, die zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, Arbeit und Freunde verloren?
Jeder Vierte, der nach Paragraph 175 in der Nachkriegszeit Verurteilten, brachte sich um. „Ich hatte zum Glück Unterstützung“, sagt Lorenz. „Meine Wirtin, ein Freund, der Richter war. Eine Freundin riet mir, auf jeden Fall meinen Abschluss zu machen. Ein Rat, den ich nicht brauchte: Ich flüchtete in die Arbeit.“
Andere flüchteten sich in Alkohol, viele verfielen in Depressionen.
Lorenz hat als promovierter Historiker zum Paragraph 175 intensiv geforscht. Zusammen mit dem Historiker Ulf Bollmann und einem weiteren Autoren hat er das Buch Homosexuellenverfolgung in Hamburg 1919-1969 herausgegeben. Es ist das Ergebnis einer aufwändigen Recherche: Homosexuelle in der deutschen Gesetzgebung, die Zeit von 1933 bis 1945, die Verfolgung danach, Fluchten in Hetero-Ehen, die Situation lesbischer Frauen und die Namen der NS-Verfolgten, für die Stolpersteine gelegt wurden.
2014 trifft Lorenz Bundesjustizminister Maas und trägt ihm sein Anliegen vor: Wie die Urteile zwischen 1933 und 1945 müssen auch alle Urteile nach 1945 aufgehoben werden. Sie wurden schließlich aufgrund derselben Rechtslage ausgesprochen. Außerdem muss eine Entschädigung gezahlt werden. Nun soll es also bald soweit sein.
Wann ist bald?
Nur wann ist bald? Und warum ist bis heute nichts geschehen? Bis vor kurzem bewegte sich rein gar nichts. Zum Christopher Street Day im Juli veröffentlichte Maas lediglich ein vierseitiges Eckpunktepapier. Es umriss die Thematik, blieb aber unkonkret. „Es wurde allen Fraktionen im Bundestag zugeschickt“, sagt eine Sprecherin des Ministers auf Anfrage. Man beeile sich ja, aber es habe keinen Sinn voranzupreschen, bevor man nicht wisse, wie der Konsens aussähe. Nach der Ankündigung von Maas, nun ein Gesetz zur Aufhebung des Unrechts zu machen, hielt sich die Union als Koalitionspartner auffallend zurück.
Und Gesetzgebungsverfahren können dauern. Es gibt zwei Fragen, die geklärt werden müssen: Stellt es das bundesdeutsche Recht in Frage, wenn es in Teilen nicht nur als Unrecht bezeichnet wird, sondern danach gesprochene Urteile sogar aufgehoben werden? Und: Was ist mit den Urteilen, die nach Paragraph 175a, also aufgrund sexueller Handlungen mit Minderjährigen gesprochen wurden, die damals unter 21, 18, beziehungsweise 16 Jahren waren? Erst seit 1973 wurde die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt; erst seit 1994 gilt für Jungen dasselbe Schutzalter wie für Mädchen: 14 Jahre.
Allerdings sind die allermeisten Strafakten zum Paragraph 175 aufgrund geringer Aufbewahrungsfristen nach 1945 bereits geschreddert. Ulf Bollmann sorgte zumindest dafür, dass wenigstens die Verfahrensregister aufbewahrt werden, in denen Namen und Delikte stehen. „Es sind 60 bis 100 Meter Register, die durchgearbeitet werden müssten. Es ist Handarbeit, man muss etwas von Archiv verstehen und Sütterlin lesen können“, sagt Bollmann, der im Hamburger Staatsarchiv arbeitet.
Circa 50.000 Mal wurden nach 1945 in Westdeutschland Männer nach Nazirecht zu Bewährungs-, Geld-, oder Haftstrafen verurteilt, weil sie homosexueller Handlungen überführt wurden. In der DDR waren es mehrere tausend Betroffene. Viele der ehemals Inhaftierten sind bereits verstorben. Und wer noch lebt, schweigt.
Lorenz wird dann doch emotional, wenn er auf die Zahlen zu sprechen kommt: „50.000 ist ein verharmlosender Kampfbegriff. Es geht doch um viel mehr Menschen. Opfer sind auch jene, gegen die lediglich ermittelt wurde.“ Also Männer wie er. Und es geht auch um jene, die von der Justiz zwar unbehelligt blieben, die aber ein Leben lang ihre Sexualität geheim halten mussten oder ein Leben führten, das ihrem Inneren widersprach. „Ich bekam nach acht Wochen ein formloses Schreiben, dass die Ermittlungen eingestellt seien“, erzählt Lorenz. „Man hatte allerdings meine Familie informiert, die vorher nichts von meiner Homosexualität wusste.“ Es geht bei diesem Unrecht immer auch um ganze Familien. Wie soll das entschädigt werden?
Schwulen- und Lesbenverbände, SPD, Grüne und Linke fordern eine kollektive Lösung. Das Geld könnte Beratungsstellen und Forschungsinitiativen zukommen. Tatsächlich zahlt bislang auch niemand dafür, dass einer der größten Justizskandale der Nachkriegszeit historisch aufgearbeitet wird. Und Gründe gibt es auch heute genug, die Anlaufstellen für Jugendliche und Erwachsene zu stärken. Immer noch ist das Coming-out ein Prozess, der Mut erfordert. „Es ist heute nicht viel leichter als früher, sich zu outen. Die Gesellschaft ist immer noch homophob“, ist Lorenz überzeugt. Und eine Statistik stützt diese Einschätzung: Die Anzahl schwuler, lesbischer und bisexueller Jugendlicher, die sich jedes Jahr das Leben nehmen, ist siebenmal höher als die heterosexueller.