Vortrag beim Festakt anlässlich des 40-jährigen Bestehehens des Medizinischen Zentrums pro familia Bremen
Liebe Anwesende,
zunächst überbringe ich eine Grußbotschaft, die wie folgt lautet: Liebe Pro Familia Bremen, vor ca. 30 Jahren wart Ihr unser großes Vorbild und Ihr habt mir u. a. einen respektvollen, korrekten Umgang mit den betroffenen Frauen beigebracht. Danke für Eure Arbeit! Diese Grußbotschaft stammt von twitter und geschrieben hat sie – Kristina Hänel. Ich möchte mich diesem Dank ausdrücklich anschließen.
Und ich finde es unglaublich toll, dass Ihr Euren Fachtag anlässlich des Jubiläums des Medizinisches Zentrums den Frauenrechten als Menschenrechte gewidmet habt. Denn darum geht es ja beim 219a: Das Recht jeder Frau, über sich und ihren Körper nach umfassenden, frei zugänglichen Informationen selbst entscheiden zu können.
1) Die Folgen des 219a für Frauen, für ihre Rechte, sind in den letzten zwei Jahren endlich breiten Teilen der Gesellschaft bekannt geworden. Er trägt eine maßgebliche Verantwortung an dem Versorgungsnotstand mit Ärzt*innen, Institutionen und Kliniken, die Abbrüche durchführen. Durch ihn wird Abtreibung anhaltend stigmatisiert und damit auch die durchführenden Mediziner*innen – deren Berufsfreiheit eingeschränkt wird – und die ungewollt Schwangeren, denen durch ihn elementare Patientinnenrechte versagt werden.
Warum der 219a so lange ein Schattendasein führte, lässt sich allerdings meiner Meinung nach nicht so leicht erklären. Man könnte sagen: Manches braucht Zeit. Und manchmal reicht ein Funke, der etwas entzündet, was sich dann mit voller Wucht entwickelt.
Noch zu den Bundestagswahlen 2017 legte beispielsweise der Deutsche Frauenrat einen Forderungskatalog vor, der sich mit Frauengesundheit beschäftigte. Darin wird eine geschlechtergerechte Gesundheitspolitik gefordert. Aber es findet sich zur Umsetzung des Rechts auf reproduktive Gesundheit kein Hinweis auf die §§ 218 und 219 StGB, sondern nur Forderungen zu Senkung der Kaiserschnittrate, der Versorgung mit Hebammen, und kostenlose Verhütungsmittel. Das ist nicht schlecht, das sind wichtige Forderungen. Aber sie sind, und zwar nicht nur aus heutiger Sicht, unvollständig.
Nur wenige Monate nach den Bundestagswahlen startete Kristina Hänel dann ihre Petition. Und damit die darauffolgende Protestbewegung, die binnen weniger Wochen den Bundestag mobilisierte und den 219a aus seiner Nische holte.
Eigentlich müssten wir mit uns selbst hart ins Gericht gehen. Denn was hat uns eigentlich davon abgehalten, die Strafanzeigen gegen Ärzt*innen, die es ja auch vorher schon gab, zu skandalisieren und uns mit den Betroffenen zu solidarisieren?
Und auch der Versorgungsnotstand war bereits vorhanden, wie Eiken Bruhn, taz-Redakteurin Bremen, auch bereits in 2017 darlegte, als sie über die Versorgungssituation in Niedersachsen berichtete. Sie beschrieb unter anderem zwei Problemfelder, die sich mit dem Informationsverbot des 219a wirkungsmächtig verbinden:
Zudem erlaubt das Gesetz Ärzt*innen, die Teilnahme an dem Eingriff abzulehnen – davon machen jüngere Mediziner*innen zunehmend Gebrauch. Ihnen fehlt die politische Überzeugung älterer Kolleg*innen, die noch für das Recht auf Abtreibung demonstriert haben. Selbstredend wird das Thema nicht in der Ausbildung gelehrt – Straftaten gehören nicht ins Curriculum. (taz, 15.9.17)
2) Parallel hat sich in den letzten 15 Jahren die gesamte ärztliche Versorgung verändert, nicht nur in Bezug auf die Budgetierung. Es gibt auch einen eklatanten Mangel aus Haus- und Kinderärzt*innen, vor allem in der Fläche. Und die starren Zuschnitte für die Vergabe von Praxissitzen durch die Kassenärztliche Vereinigung sorgen dafür, dass selbst in den großen Städten – und dort vor allem in den Stadtteilen, in denen viele Menschen in prekären Lebenslagen wohnen – ein Mangel an Allgemeinmediziner*innen vorhanden ist.
Deutschland verfügt außerdem mittlerweile europaweit über die höchste Dichte an privaten Krankenhäusern, vornehmlich betrieben von großen Klinikkonzernen. Und auch die konfessionell gebundenen Krankenhäuser haben an Anzahl rapide zugenommen. Was zur Folge hat, dass dort in der Regel keine Abtreibungen mehr durchgeführt werden. Das wird auch so weiter gehen: Die Bestrebungen sind, die Anzahl der Betten zu senken und die stationären Angebote weiter zu konzentrieren.
Wie sich die Verknappung des Angebots an medizinischer Versorgung auswirkt, zeigt der aktuelle Fall in Flensburg mit dem geplanten Großklinikum. Es wird – weil die direkt dem Papst unterstehenden Malteser als Träger, statt Flensburg oder das Land Schleswig-Holstein, mit einsteigen – künftig dort nur noch Abtreibungen geben, wenn sie medizinisch notwendig sind.
Dort entwickelt sich aber gerade Widerstand und der wäre – da bin ich mir ziemlich sicher – nicht zustande gekommen, wenn es die Bewegung gegen 219a nicht geben würde. Mittlerweile sind wir nämlich bundesweit vernetzt – sogar bis an die Grenze zu Dänemark 😉 Erst diese Woche gab es die erste öffentliche Protestveranstaltung. Und ich bin mir sicher, dass das nicht die letzte gewesen ist. Auch pro familia in Schleswig-Holstein wurde schnell aktiv und hat sich in der Öffentlichkeit laut und kritisch geäußert. Und auch hier trägt derzeit eine Online-Petition dazu bei, dass sich Menschen informieren und erklären können. Die schwarz-gelb-grüne Landesregierung in Kiel ist ziemlich unter Druck. Noch zeigt sich der FDP-Gesundheitsminister allerdings uneinsichtig.
Ein universeller Teil von Frauenrechten wird in Deutschland also seit Jahren schleichend aber zunehmend und systematisch (!) aufgrund der Ökonomisierend des Gesundheitswesens, starrer Vorgaben bei Praxissitzen, anhaltendem Stigma und Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und dem Weggucken der Landes- und Bundesregierungen, bzw. anderer Präferenzen betrieben. Sie reden sie sich mit einem Mangel an Daten heraus und wissen es zum Teil ja auch wirklich nicht. Nach dem Motto: Und wer keine Probleme sieht, muss auch nicht handeln.
So hat aber als erstes die Journalistin Dinah Riese von der taz in einer aufwendigen Recherche herausgefunden, wie schlecht bundesweit die Versorgungssituation mit Praxen, Kliniken und weiteren Einrichtungen we medizinischen Versorgungszentren der profa, die Abtreibungen vornehmen, mittlerweile ist. Dafür erhielt sie sogar einen Preis. Wie ich finde, hochverdient. Aber auch andere Journalistinnen haben sich sehr engagiert bei dem Thema.
Und das veranschaulichte, dass es viel bringt, wenn mehr Frauen in den Redaktionen sind: Die großen Texte, die Interviews, die Porträts, die Reportagen zum 219a, über Kristina, über Nora und andere haben fast nur Frauen geschrieben. Oder dass es endlich weibliche Comedians wie Carolin Kebekus gibt.
Oft sind diese Frauen eben auch im reproduktiven Alter, sind sie auch persönlich betroffen und aufrichtig empört, dass sie sich nicht bei Ärzt*innen einschlägig und vorab informieren dürfen, wenn sie ungewollt schwanger werden, bevor, während sie zur Pflichtberatung gehen, bzw. anschließend.
3) Überall im Land sind Menschen in den letzten zwei Jahren aufgestanden und haben deutlich gemacht, dass sie die Abschaffung des 219a wollen. Pro familia hat sich an die Seite dieser Menschen gestellt. Hat eine führende Rolle eingenommen und war als Fachverband selbstverständlich oft angefragt.
Ich habe zudem die Erfahrung gemacht, dass es den Beschäftigten bei der Profa Hamburg und unserem Familienplanungszentrum gutgetan hat, dass ihre Arbeit eine Form in der Öffentlichkeit gefunden hat. Raus aus dem Tabu. Akzeptanz und Interesse an der Arbeit. Die Möglichkeit, sich zu zeigen, sich zu beteiligen und den Klientinnen auf eine neue Art und Weise zu begegnen – und sei es gemeinsam auf einer Demo. Oder mit unserem Fachtag im letzten Jahr, an dessen Ende wir in Hamburg das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung gegründet haben, das nun bereits zwei annehmbar große Demonstrationen und mehrere Protestaktionen durchgeführt hat.
Ich wünsche mir, dass mein Vortrag heute einen Beitrag dazu leisten kann, dass Ihr Euch, spätestens ab heute auch zu Aktivistinnen von reproduktiven Rechten macht, sofern ihr es nicht bereits seid.
Denn, und das haben wir Anfang des Jahres gesehen, der 219a wurde zwar reformiert. Aber es war eine Beruhigungspille und nicht nur ein fauler, es war ein schlechter Kompromiss. Zudem mit einer unsäglichen Vorgeschichte: Dass die SPD nur zwei Tage vor der Kanzlerinnenwahl ihren Gesetzesvorschlag auf Streichung des 219a zurückgezogen hat, und zwar in Person von Andrea Nahles, war unerhört. Das zeigt, und das ist die Lehre daraus, dass man sich auf Regierungen und Parlamente nur bedingt, bzw. eigentlich gar nicht verlassen darf. Das einzige, was wirksam ist, ist öffentlicher Druck. Und dafür Sorge zu tragen, dass die Forderung nach Abschaffung des 219a weiterhin mehrheitsfähig in dieser Gesellschaft bleibt.
4) Ich möchte nun gern darstellen, wieso die Überschrift Eures Fachtages, „Frauenrechte sind Menschenrechte“ so bedeutsam ist. Denn Kristina Hänel ist zwar Feministin und eine leidenschaftliche Kämpferin für Frauenrechte, aber sie hatte ihre Petition damals bewusst vor allem auf sich als Ärztin bezogen und ihre Einschränkungen durch den 219a in den Vordergrund gestellt – was richtig war, denn sie wurde ja von Yannick Hendricks angezeigt. Ihre Berufsfreiheit wird eingeschränkt und das ist verfassungswidrig. Der Blickwinkel auf Frauenrechte als Menschenrechte ist ein anderer und veranschaulicht, warum es so wichtig ist, dass wir uns als Pro-Choice-Bewegung weiter engagieren und noch weiterwachsen müssen.
In der UN-Frauenrechtskonvention, die seit 1981 in Kraft und auch unter dem Namen CEDAW bekannt ist, steht als Ziel der internationalen Staatengemeinschaft, jegliche Diskriminierung von Frauen zu beseitigen. 189 Staaten haben die Konvention bislang ratifiziert. Der Vatikan gehört neben anderen nicht dazu.
Die „Diskriminierung der Frau“ wird darin wie folgt definiert … jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Familienstands – im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird.
Bis 1981 leiteten sich universelle Frauenrechte aus der „Allgemeinen Menschenrechtserklärung“ aus dem Jahr 1948 ab. Interessanterweise wird in dieser Erklärung übrigens nur von den Rechten Geborener ausgegangen, gleich in Artikel 1 (Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.).
Die UN-Frauenrechtskonvention CEDAW besagt, dass weitreichende Maßnahmen, nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch in allen gesellschaftlichen Bereichen die Voraussetzung dafür sind, die Diskriminierung von Frauen zu überwinden und die volle und gleichberechtigte Ausübung der politischen, bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte durch Frauen zu ermöglichen.
Dazu gehört auch, nicht nur meiner Meinung nach, ein umfassendes Informationsrecht bei Schwangerschaften, ob gewollt oder ungewollt. Eine Schwangerschaft ist schließlich ein großer Einschnitt im Leben einer Frau. Informationen hierzu mit einem Tabu, und dazu noch einem Strafbewehrten, zu belegen, ist ein Verstoß gegen die Frauenrechtskonvention. Das Strafgesetzbuch muss daher geändert werden. Die Reform des 219a ist unzureichend.
Ich trage nun sicherlich Eulen nach Athen, wenn ich noch einmal festhalte: Reproduktive Rechte und Gesundheit beschreiben das Recht eine*r jede*n Einzelnen, selbstbestimmt und frei über den eigenen Körper und die eigene Sexualität zu entscheiden. Dies bedeutet vor allem die freie Entscheidung zu Elternschaft, das Recht über die Anzahl und den Zeitpunkt der Geburt der Kinder zu entscheiden, sowie über die dafür nötigen Informationen, Kenntnisse und Mittel zu verfügen.
5) Es ist deswegen beim 219a sehr wichtig, was auf internationalem Parkett stattfindet, auch wenn es manchmal schwerfällt, den Blick über den nationalen Tellerrand, oder sogar über die Stadt, in der man lebt, hinweg zu richten. Denn auch für die Rechte in Deutschland werden international die Weichen gestellt.
Und – auch die Gegner reproduktiver und sexueller Rechte formieren sich zunehmend international. Vor allem seit Donald Trump US-amerikanischer Präsident ist, haben sie Aufwind erfahren. Eine seiner ersten Amtshandlung bestand ja auch daraus, die staatlichen Zuschüsse für Organisationen, die im Ausland Abtreibungsberatungen anbieten, zu streichen, siehe hierzu DIE ZEIT, 24. Januar 2017
Zuvor hatte zuletzt Ronald Reagan entsprechende Kürzungen angeordnet. Aber seit der Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen, die 1994 in Kairo stattgefunden hat, gelten die Umsetzung der Menschenrechte und die Selbstbestimmung als unumstößliche Maßstäbe für die Sexualität und die Reproduktion des Menschen.
Und diesen Zustand möchte einflussreiche Kreise nun wieder umkehren. Insofern glaube ich auch nicht, dass die Bewegung, die letztlich Kristina Hänel mit ihrer Petition entfachte, eine Zufallsbewegung ist. Sie ist eine nötige Gegenwehr gegen die Angriffe auf Frauenrechte in Deutschland. Sie ist Teil einer internationalen Bewegung.
Und Kristina und viele andere Ärzt*innen wie Nora Szász auch stehen für Haltung, Courage und geben der Bewegung ein Gesicht. Dass Ärzt*innen eine so wichtige Rolle einnehmen können, ist auch in Anbetracht der doch eher konservativen Ärzteschaft ein Phänomen. Aber ihr mischt Eure Zunft ja auch gerade ganz gut auf. Zuletzt mit der Gründung der Doctors for Choice, initiiert durch die wunderbare Alicia Baier. Und es ist wirklich gut, dass ihr mit dem AKF eine eigenständige, progressive Struktur für die Frauengesundheit habt.
Doch zurück zu den Gegnern.
6) Ich weiß nicht, wer von Euch Sophia Kuby kennt. Sie ist Marketingexpertin und bekennende Abtreibungsgegnerin und Geschäftsführerin der homophoben und antifeministischen Lobbyorganisation „European Dignity Watch“. Sie versucht über PR-Arbeit Einfluss auf die Arbeit der Europäischen Union zu nehmen, tritt regelmäßig öffentlich auf.
Sie ist sozusagen das zunächst freundliche und weibliche Gesicht der Szene – das zumindest also äußerlich exakte Gegenteil von Klaus Günther Annen, der neben Yannick Hendricks Ärzt*innen anzeigt, die gegen 219a verstoßen und der die Hassseite babycaust.de betreibt. Inhaltlich sind es Zwillinge.
Sophia Kuby wird von fundamentalistischen Kreisen als Menschenrechtsaktivistin protegiert und sagt von sich, die katholische Sexualmoral habe eine befreiende Wirkung auf sie gehabt. Interessanterweise führt „European Dignity Watch“ den ersten Satz der “Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ auf ihrer Website groß auf: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Wortlaut dieses Satzes wirklich verstanden haben. Oder aber ob es ein bewusster Versuch ist, diese Aussage für sich umzudeuten. Viele spricht für letzteres, worauf ich auch gleich zu sprechen komme.
Der Name Sophia Kuby fiel mir das erste Mal auf, als ich den Film „Pro Life – Abtreibungsgegner auf dem Vormarsch“ gesehen habe. Er lief 2017 auf ARTE und zeigt die Reichweite und den Einfluss der Netzwerke auf, die europa- und weltweit gegen sexuelle und reproduktive Rechte agieren – sowie deren Finanziers. In diesem Film wird das Netzwerk „Agenda Europe“ vorgestellt, und deren Strategien und Ziele gegen sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte in Europa. Die Dokumentation legt offen, mit welchen Methoden die Abtreibungsgegner kämpfen. Die Filmemacherinnen Alexandra Jousset und Andrea Rawlins-Gaston haben in Europa, Russland und den USA über die Netzwerke der neuen Abtreibungsgegner, ihre Finanzierungsquellen und Methoden recherchiert.
Ein wirklich sehenswerter Film, der leider nicht mehr in der Mediathek steht, aber über das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung angefragt werden kann. Wir haben ihn in Hamburg vor kurzen bereits gezeigt.
7) Bei der „Agenda Europe“ geht es darum, die sog. natürliche Ordnung wiederherzustellen. Es handelt sich um eine Vision religiöser Extremist*innen, europäische Gesellschaften gegen Menschenrechte in Bezug auf Sexualität und Reproduktion zu mobilisieren.
Das „Europäische Parlamentarische Forum für Bevölkerung und Entwicklung“ hat die Arbeitsweisen und Strategien des Netzwerks recherchiert und genau beschrieben. Und weil der Bericht sehr aufschlussreich ist, hat sich pro familia entschlossen, eine deutsche Übersetzung herauszugeben. Die 60-seitige Publikation liegt seit kurzem vor – auch online, ein Exemplar habe ich mitgebracht.
So heißt es darin gleich eingangs: Während Mitgefühl ein erklärter Eckpfeiler des Christentums ist, fehlt es in der von Europas Anti-Choice-Bewegung vertretenen Haltung gänzlich. Diese Bewegung würde Frauen dazu zwingen, unerwünschte Schwangerschaften fortzusetzen; sie würde den Zugang zu Empfängnisverhütung einschränken und bestimmen, wer heiraten und wer sich als Familie bezeichnen darf. Viele werden überrascht sein, dass die Bewegung auch gezielt gegen Scheidung und den Zugang zur IVF-Behandlung (künstliche Befruchtung) vorgeht. Dabei versucht sie, über öffentliche Politik und Gesetzgebung, anderen ihre persönlichen religiösen Ansichten aufzuzwingen.
Ich erwähne das deshalb, weil es den aggressiven und wirklich verlogenen Charakter der „Agenda Europe“ darstellt. Es werden in der Broschüre außerdem die Strategien der „Agenda Europe“ beschrieben, mit denen die Abtreibungsgegner versuchen, Einfluss zu gewinnen. Und das zeigt auf, wie dieses Netzwerk bereits in die Gesellschaft hineinwirkt.
Eine Hauptleitlinie lautet, keine Angst davor zu haben, unrealistisch oder extremistisch zu sein. Vielmehr die Waffen der Gegner (O-Ton!) zu nutzen und sie gegen sie verwenden. So spielen Sprache und die Verwendung von Begriffen eine überaus große Bedeutung. Es ist deren Ziel, Bezeichnungen umzudeuten, sie – so heißt es – zu kontaminieren. Deswegen benutze ich beispielsweise auch wieder den Begriff Abtreibung. Er ist an sich nicht negativ. Er wurde aber kontaminiert und klingt für viele mittlerweile abwertend. Mit dem Begriff „Lebensschutz“ haben die Abtreibungsgegner übrigens einen ihrer größten Erfolge erzielt, wie ich finde. Rauf und runter und selbst in unseren Vorträgen und Texten reden wir von diesen Leuten als Lebensschützer. Und selbst wenn wir ein „sogenannt“ davorstellen oder ihn in Anführungszeichen setzen, bleibt der Begriff bestehen. Obwohl er eine glatte Lüge ist. So hilft meiner Meinung nach dagegen nur, zu sagen, dass dann Hitler wohl der größte Lebensschützer war.
Beispielsweise wurde von den Aktivisten der „Agenda Europe“ auch ein wegweisender Bericht über Homophobie in Europa als Steuergeldverschwendung bezeichnet, weil er methodisch fehlerhaft sei. Der Begriff Steuergeldverschwendung schürt ja in Zusammenhang mit der EU immer sofort die Emotionen in eine bestimmte Richtung, kontaminiert sofort die Glaubwürdigkeit der Studie. Da gelingt es kaum noch, argumentativ etwas dagegen zu setzen.
Es werden außerdem gezielt Christinnen und Christen als Opfer dargestellt und auch gesagt, wer die Gruppen seien, die die Rechte religiöser Menschen verletzen: radikale Feministinnen, radikale homosexuelle Gruppen und radikale Säkularisten. Eine der konkreten Maßnahmen lautet, Gewissensklauseln zu etablieren. Und es sollen Positionen der „Agenda Europe“ in akademische Arbeiten eingebracht werden, um die akademische Debatte zu beeinflussen.
Eine weitere Strategie besteht darin, den Gegner gezielt zu verleumden. Und zwar bis hin zu psychischer Gewalt. Ziel ist, zu erreichen, dass den – O-Ton – „Abtreibungs- und Schwulenlobbys“ die finanziellen Mittel entzogen werden. IN den USA wie man sieht, bereits mit Erfolg. Desweiteren geht es darum, selbst Fördergelder zu erlangen. Dies soll mit den Themen Religionsfreiheit, Ehe und Familie erreicht werden.
Mir sind auf Anhieb einige Erlebnisse eingefallen, die mit diesen Plänen in Einklang stehen: Zum Beispiel forderte letztes Jahr der Vertreter der Frauenärzte in der öffentlichen Anhörung zum § 219a im Rechtsausschuss des Bundestages, dass es nur noch Frauenärzten vorbehalten sein solle, Abtreibungen durchzuführen. Damit wären einer Kristina Hänel Abbrüche nicht mehr möglich.
Und ich war damals fast sprachlos, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, gerade eben im Amt, von sich gab, er wundere sich, dass sich Aktivisten einerseits für Tierschutz stark machten, aber andererseits dem Schutz ungeborenen Lebens keine Beachtung schenkten. Ich hatte zunächst nicht verstanden, woher dieser absurde Vergleich kam. Bis ich ihn auf der Hass-Seite von Klaus Günther Annen entdeckte. Und zwar nur dort.
Auch die völlig sinnlose Studie zu dem längst widerlegten „Post Abortion Syndrom“ gehört meiner Meinung nach dazu. Dafür hat die Groko 5 Millionen Euro locker gemacht. Die Pro Choice-Bewegung war allerdings pfiffig: Es gibt jede Menge Bewerbungen um die Durchführung der Studie, an denen wir beteiligt sind. Die Vergabe wird in der nächsten Zeit bekannt gegeben, ich weiß das genaue Datum nicht. Ich finde aber auch, dass die Gehsteigbelästigungen vor pro familia-Standorten dazu zählen. Wie natürlich Strafanzeigen gegen Ärzt*innen wie aber auch gegen Aktivistinnen, die die Namen der Abtreibungsgegner öffentlich nennen. Yannic Hendricks hat zumindest hier eine Niederlage eingefahren und ich finde, dass ist auch eine Niederlage der gesamten Anti-Choice-Szene.
8) Die „Agenda Europe“ setzt sich aus rund 100 bis 150 Personen aus mindestens 50 konservativen NGOs in über 30 europäischen Ländern zusammen, die sich gegen verschiedene Aspekte von SRR engagieren, und die sich selbst in „Pro-Life-Organisationen“ (beziehungsweise Anti-Choice-Organisationen) und „Pro-Familie-Organisationen“ (beziehungsweise Anti-LGBT-Organisationen) unterteilen. Es gibt direkte Verbindungen zum Vatikan. Es gibt auch einige Politiker, die immer wieder mit der “Agenda Europe“ in Erscheinung treten und auf deren Kongressen sprechen. Deutsche Politiker sind bislang nicht darunter, noch nicht. Einige Abgeordnete des Deutschen Bundestages schicken regelmäßig Grußwörter zum so genannten „Marsch für das Leben“, der jedes Jahr im September in Berlin stattfindet, so Sylvia Pantel oder Veronika Bellmann von der CDU.
Das ist leider noch nicht alles. Denn hinter den Leuten der „Agenda Europe“ stehen vermögende Geldgeber. Ich zitiere aus der Broschüre: Zu den potenziellen Geldgebern des Agenda-Europe-Programms insgesamt scheint ein buntes Ensemble zu gehören bestehend aus einem mexikanischen Milliardär und Abtreibungsgegner, Mitgliedern des europäischen Adels, einem britischen Milliardär und Klimawandelleugner, einem rechtsextremen russischen Oligarchen und einem korrupten italienischen Politiker, der auf der Gehaltsliste Aserbaidschans steht. Das gesamte private Vermögen dieser Agenda-Europe-Teilnehmenden beläuft sich auf 5,3 Milliarden US$ bei Patrick Slim, zwischen 63 und 207 Millionen US$ bei der Familie Habsburg-Lothringen, 2,1 Milliarden US$ bei Sir Michael Hintze und 225 Millionen US$ bei Konstantin Malofejew.
Mit den Geldern dieser reichen Leute werden dann europaweite Kampagnen finanziert. Und es gibt einen ehrgeizigen zehnseitigen Aktionsplan, der kurz-, mittel- und langfristig Ziele in Bereichen Ehe, Familie, Leben, Gleichbehandlungs- und Antidiskriminierungsgesetzen umfasst.
Wer sich einmal das Wahlprogramm der AfD durchliest, wird vieles davon wiederentdecken. Man könnte glauben, da hat jemand von der „Agenda Europe“ die Hand geführt. Aber nicht nur. Die CDU stößt allerdings leider ins gleiche Horn und es gibt nur wenige in der Union, wie beispielsweise Rita Süßmuth oder Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende, die anders denken.
Fakt ist, dass Frauenrechte in Deutschland, in Europa und auch weltweit gefährdet sind. Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, Polen, den USA sollten mehr als ernst genommen werden. Auch wenn es andererseits sehr ermutigende Entwicklungen gibt, wie in Irland oder Neuseeland.
Aber eines kann man ja schon jetzt daraus lernen: Nichts ist in Stein gemeißelt. Rechte können auch wieder abgebaut werden. Regierungen wechseln. Und damit stehen und fallen Gesetze oder internationale Geldflüsse. Gestern noch gab es einen eher liberalen US-Präsidenten, heute sitzt ein Sexist und Rassist im Oval Office.
Sexuelle und reproduktive Rechte sind natürlich nicht nur Frauenrechte. So wie auch die Pro-Choice-Bewegung keine reine Frauenbewegung ist. Es war ein schöner Anblick im November 2017, als wir aus dem Gericht in Gießen traten und viele junge Männer dort standen und solidarisch mit Kristina waren. Auch an unseren Demonstrationen, die wir am „Safe Abortion Day“ jetzt zum zweiten Mal in Hamburg durchgeführt haben, mit jeweils rund 1.000 Menschen, haben viele Männer teilgenommen. Die Bewegung ist dennoch feministisch. Denn sie greift die Grundpfeiler des patriarchalisch geprägten Kapitalismus an. Der darauf fußt, dass die Interessen der Geschlechter gespalten und Frauen wie Männer nach Verwertbarkeit benutzt und im Arbeitsprozess eingesetzt werden. Und entsprechend unterschiedlich ihr Anteil an der Reproduktionsarbeit ist.
9) Es fühlte sich lange Zeit für junge Frauen so an, als wären sie gleichgestellt. Sie machen zudem die besseren Schulabschlüsse, legen die besseren Master- und Bachelor-Arbeiten vor. Sie erobern zunehmend Männerdomänen wie die Medizin, auch wenn die Chefarztposten noch eher männlich besetzt sind. Schwangerschaftsabbrüche waren lange kein Problem und es geriet in Vergessenheit, dass sie ohne Beratung und Einhaltung von Fristen Geld- und Gefängnisstrafen bedeuten können.
Die Falle schnappt ja sowieso meist immer erst dann zu, wenn eine Frau ein Kind bekommt. Dann teilen sich die Arbeitsbiographien zwischen Männern und Frauen auf, dann beginnt die Schere in der Einkommensentwicklung auseinander zu driften. Mit der fatalen Auswirkung – wie wir heute bereits wissen – dass die Altersarmut bei Frauen in den nächsten Jahren rapide zunehmen wird. Und deswegen kann es nur eine Forderung geben: Das Recht, selbst zu bestimmen, ob und wann und wie viele Kinder geboren werden, muss daher eine Frau ganz allein entscheiden können.
10) Liebe Anwesende,
der Kampf für sexuelle und reproduktive Rechte ist daher noch lange nicht zu Ende. Es sind soziale Grundrechte und der 219a ist auch ein Armutsparagraph. Weil es Frauen, die keine Geldsorgen haben, noch nie große Probleme bereitet hat, Schwangerschaften zu beenden. Es gilt daher auch, allein aus Solidarität mit Menschen in prekären Lebenslagen weiter Proteste zu organisieren, aufzuklären, mehr Menschen zu überzeugen, dass es hier um etwas sehr Großes und sehr Grundsätzliches geht.
Pro familia kommt eine – für einige hier vielleicht immer noch ungewohnte aber wirklich notwendige – Rolle dabei zu: Den Protest auf die Straße zu holen, sich als Sperrspitze, zumindest aber als unverzichtbare Bündnispartnerin innerhalb der Pro-Choice-Bewegung zu verstehen, nämlich als Expertin von reproduktiven und sexuellen Rechten. Auch, um immer wieder das zu fokussieren, was für alle Menschen erstrebenswert sein sollte: Sexuelle und reproduktive Freiheit und Selbstbestimmung zu erlangen.
Soweit – und diese Einschränkung muss an dieser Stelle korrekterweise auch sein – es in diesem Gesellschaftssystem, dass eben eher auf Spaltung der Geschlechter angelegt ist – möglich ist. Aber auch unter den aktuellen Bedingungen müssen Freiheitsrechte soweit wie möglich durchgesetzt werden. Letztlich ist dann dann ja auch die Voraussetzung, um Unterdrückung und Herrschaft der Menschen durch den Menschen irgendwann einmal ganz zu überwinden und damit auch das Patriarchat.
Nämlich: zu entscheiden, wen ich liebe, wie ich liebe, wann ich mich fortpflanze, welche Sexualität ich praktiziere und ob ich heirate oder nicht. Dass ich die gleichen Schutzrechte des Staates genieße in der jeweiligen Lebensgemeinschaft, in der ich Verantwortung trage und in der für mich Verantwortung getragen wird, auch wenn sie nicht die bürgerliche Kleinfamilie darstellt.
Und ich denke, dass pro familia auch die Aufgabe hat, der nächsten Generation eine Brücke zu bauen. Das könnte mit PIA gelingen, dem Jugendnetzwerk. Aber ich habe auch festgestellt, dass Frauen um die 20 genauso gern mit Frauen Mitte 50 und älter zusammen auf die Straße gehen. Und dass sie begeistert sind, auch wenn sie zusammen mit ihren Müttern und auch Großmüttern demonstrieren. Und feststellen, dass ihre Themen die Themen aller Frauen sind. Plötzlich sprechen Frauen mit ihren Töchtern über ihre Abtreibungen. Oder Töchter fragen, wie es war. Oder die Großmütter können erzählen.
11) Und es gibt noch einen weiteren Aspekt und ich möchte erneut Kristina Hänel einbringen. Sie sagte vor einigen Wochen in einem Interview, das sie der taz Bremen gab, dass sie über die Angriffe der Abtreibungsgegner lange nicht öffentlich reden wollte, um keine schlafenden Hunde zu wecken.
Aber seit sie die erste Mail mit rechtsradikalem Inhalt bekam, in der sie mit dem Tode bedroht wurde, war ihr klar, dass sie den Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und der Ächtung des Schwangerschaftsabbruchs öffentlich benennen muss. Öffentlichkeit bedeute Schutz, sagte sie. (taz vom 15. Oktober 2019) Und dem möchte ich mich auch ausdrücklich anschließen. „Schlafende Hunde“ darf es für uns nicht geben.
In diesem Sinne wünsche ich vielen Menschen, diese Solidarität und Verwirklichung von Frauenrechten als Menschenrechte zu erleben. Veränderungen lassen sich herbeiführen, wenn wir das zusammen machen.
Ich wünsche uns allen heute noch einen tollen, informativen Tag, freue mich jetzt sehr auf Noras Beitrag und auf die Gespräche im Anschluss.