veröffentlicht auf Xing.com/Klartext am 20. März 2020
Jetzt soziale Distanz halten, um Ansteckungen zu vermeiden – der Satz sagt sich so einfach, der Appell hört sich so schlüssig an. Aber unerwünschte Nebenfolgen wurden offenbar überhaupt nicht berücksichtigt oder eingeplant.
Wer es noch nicht wusste, hier zwei Tatsachen. Erstens: Schon vor der Coronakrise waren Deutschlands Frauenhäuser überfüllt. Zweitens: Häusliche Gewalt hat nichts mit Wohnverhältnissen, Milieuzugehörigkeit oder Bildungsstand zu tun – sie findet überall statt. Die Coronakrise wird das Problem weiter verschärfen.
So hat auch in China die Quarantäne zu einem massiven Anstieg häuslicher Gewalt geführt. „Als Folge der Epidemie hocken viele Paare über einen Monat ununterbrochen zu Hause aufeinander, was viele unterschwellige Konflikte hervorbringt“, schreibt die englischsprachige chinesische Zeitung „Global Times“. Und die chinesischen Standesämter sollen nach erstmaliger Öffnung einen nie dagewesenen Ansturm von Scheidungsanträgen verzeichnet haben. Laut der Pekinger Frauenrechtsorganisation „Weiping“ ist die Zahl der Beschwerden von Opfern häuslicher Gewalt dreimal so hoch wie noch vor der Quarantäne, berichtet die „Taz“.
Wir rechnen mit einer Zunahme von Gewalt und ungewollten Schwangerschaften
Vielen Menschen geht es mit der häuslichen Isolation, mit dem „Social Distancing“, derzeit richtig schlecht. Dazu gehören einsame Frauen und Männer, an Depressionen Erkrankte oder auch jene, die um ihre berufliche Existenz fürchten müssen. Eine schlechte Gemengelage, die unweigerlich Konflikte zu Hause hervorruft – und dann sind auch noch rund um die Uhr Kinder um einen herum. Denen ja auch ihre Freundinnen und Freunde fehlen, ebenso wie ihre Kita und Schule.
Man kennt diesen Effekt von Weihnachten: Wenn mehrere Tage hintereinander Familienmitglieder miteinander auskommen müssen und es keinen Ausgleich durch Sport, Spazierengehen oder eben Arbeit gibt, stauen sich Stress und eventuell auch Aggressionen auf – und im schlimmsten Fall kommt es zu einem Wut- oder sogar Gewaltausbruch.
Es kommt hinzu, dass Betroffene bei Gewaltvorfällen nicht mehr so leicht ausweichen können, weil Eltern oder beste Freundin vielleicht unter Quarantäne stehen und Wohnungen älterer Menschen derzeit ja eh nicht aufgesucht werden sollen.
Bei Pro Familia gehen wir außerdem davon aus, dass es zu einer Zunahme ungewollter Schwangerschaften kommen wird. Daher setzen wir uns dafür ein, dass die Pflichtberatungen auch zurzeit telefonisch erfolgen können und Krankenhäuser wie niedergelassene Ärzt/innen die Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen ausbauen. Außerdem ist es dringend geboten, Verhütungsmittel unbürokratisch und überall kostenlos anzubieten!
Was können wir tun?
- Die Behörden sind aufgerufen, weitere Schutzräume anzubieten, die von Gewalt Betroffene aufsuchen können.
- Es müssen unbürokratisch und kostenlos Verhütungsmittel bereitgestellt werden.
- Die Sozialarbeit und Beratungseinrichtungen müssen umgehend besser ausgestattet werden, um auf den steigenden Bedarf vorbereitet zu sein.
- Die Nummer des Hilfetelefons sollte in allen Hauseingängen, Supermärkten und Arztpraxen ausgehängt werden.
Noch mehr als sonst sind jetzt alle dazu aufgerufen, aufmerksam zu sein, nicht wegzuschauen und Hilferufe jeder Art ernst zu nehmen.