Nazis in Oberneuland

Ich bin Jahrgang 1964, kam also 19 Jahre nach Kriegsende auf die Welt. Über Politik wurde zuhause wenig geredet, schon gar nicht über Nazis. Dass meine beiden Großväter Mitglieder der NSDAP gewesen waren, weiß ich daher erst seit kurzem.

Der Kindergarten, in den ich einst gegangen war, war in Bremen-Oberneuland einmal das NSDAP-Haus. Hier auf dem Foto sieht man die Frontseite an der Oberneulander Landstraße, recht hübsch renoviert. Das Hakenkreuz, das an der Fassade angebracht gewesen war, wurde nach 1945 entfernt. Nicht entfernt wurde ein Satz, der direkt über der Eingangstür in den dunklen Holzbalken gestanzt ist: „Wahrer Sozialismus – härteste Pflichterfüllung“.

Meine Recherchen haben ergeben, dass er eine verkürzte Fassung des Hitler-Zitates „Der wahre Sozialismus aber ist die Lehre von der härtesten Pflichterfüllung“ darstellt. 76 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der über 70 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, die meisten in der Sowjetunion und China, steht das unbehelligt über der Haustür einer Kinderbetreuungseinrichtung; offenbar auch noch aufwendig renoviert.

Ich bin in den letzten Jahren oft an dem Haus vorbei gegangen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nur auf dieser gibt es einen Bürgersteig. Auf der Seite der Kita verläuft das Fleet, eine Brücke führt hinüber. Aber als ich neulich mit Nichte, Neffe und Enkeln auf dem Spielplatz war, habe ich genauer hingeschaut. Hat das vor mir niemand getan? 76 Jahre lang nicht?

Zu den Hintergründen der Worte „Der wahre Sozialismus aber ist die Lehre von der härtesten Pflichterfüllung“ nimmt auch die jüngste Hitler-Biographie von Brendan Simms Stellung. Es heißt unter anderem: „Hitler trat für ,Sozialismus‘ ein, aber nicht denjenigen der Sozialdemokraten und Kommunisten. ,National‘ und ,sozial‘ waren aus seiner Sicht ,identische Begriffe‘. Der ,wahre Sozialismus‘ sei die ,Lehre von der härtesten Pflichterfüllung … Wahrer Sozialismus ist höchstes Volkstum.‘“ Für das Zitat finden sich weitere Quellen, zum Beispiel auch als „Wochenspruch“ in einer Publikation der Reichspropagandaleitung aus dem Jahr 1941, Zentralverlag der NSDAP, sowie in weiteren historischen Dokumenten und auf einer Erinnerungs-Medaille. Alles ist recht unkompliziert im Internet zu finden.

In Oberneuland ist das offenbar nicht weiter aufgefallen. Auch nicht der Eigentümerin des Hauses? Auch nicht der Kita-Leitung? Eltern gehen tagein, tagaus durch diese Tür, pädagogisches Personal, vielleicht auch hier und da die Vertreter:innen der örtlichen Politik. Warum haben sie alle bislang nicht hingesehen, oder gar weggesehen? Oder schlimmer noch, denn vielleicht dachten einige sogar: Was für alter Kram, das ist doch lange vorbei.

Das unterstellt: Nein, liebe Oberneulander:innen, es ist nicht vorbei. Es gibt Holocaustleugner:innen in diesem Land. Es gibt neue Nazis. Die Geschichte hat sich nicht erledigt. Und eine Kita sollte und darf sich erst recht nicht mit einem Nazi-Satz “schmücken”. Auch die Erziehungsmethoden der Nazis waren grausam. Ich finde: Es ist allerhöchste Zeit, diese Nazi-Propaganda in Oberneuland, die so lange öffentlich sichtbar war, endlich zu beseitigen. Und aufzuarbeiten. Und eine angemessene Form der mahnenden Erinnerung zu schaffen. Genau an diesem Gebäude.

Eingefärbter Screenshot aus dem Buch “Die NS-Vergangenheit früherer Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft”, Seite 88

Was muss noch über die Nazis in Oberneuland gesagt werden? Der Leiter der Oberneulander NSDAP war Johann Meyerdierks. Er übernahm in den 1920er Jahren den Bauernhof seiner Eltern, ist in dem Buch “Die NS-Vergangenheit früherer Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft” nachzulesen. 1934 wurde er „Ortsbauernführer“, 1937 Mitglied der NSDAP. 1945 war er für einige Monate Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. 1948 wurde er entnazifiziert und starb 1983 mit 86 Jahren. Was wissen seine Nachkommen? Was wissen die Menschen, die ihn kannten? Was können Zeitzeug:innen erzählen?

Redet! Klärt auf! Gedenkt der Toten und Verfolgten! Lasst es nicht zu, dass Nazi-Gedankengut in unserem Alltag präsent ist. Auch die Worte von Esther Bejarano, Auschwitz-Überlebende und mit 96 Jahren am 10. Juli verstorben, mahnen: “Ihr tragt keine Schuld an dem, was passiert ist. Aber Ihr macht Euch schuldig, wenn es Euch nicht interessiert.”

 

 

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