Aus Bremen kam die Vergangenheit zurück in die Gegenwart. In einem schmucklosen Briefumschlag befand sich eine Neufassung meines Zeugnisses aus dem Jahr 1981. Absenderin: meine ehemalige Schule, das Gymnasium Horn. Ich hatte Anfang diesen Jahres Kontakt aufgenommen, weil ich das Original seit langem nicht mehr besitze. Sondern nur noch eine vergilbte, schlecht lesbare, Kopie. Ich brauche ein vernünftiges Papier, weil ich mich für neue Jobs bewerbe.
Mit diesem Zeugnis kann ich einerseits alles andere als glänzen. Englisch, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geschichte, Erdkunde, Spanisch jeweils eine Vier (Spanisch schriftlich: Fünf), Deutsch und Musik je eine Drei, Sport eine Zwei. Andererseits müssen Bewerbungsunterlagen in der Regel völlständig sein. Optisch gut aussehen sollen sie natürlich auch, wenigstens das.
Das Zeugnis stammt aus einer Zeit, die ich Dunkelzeit meines Lebens nenne. Ich war 17, lebte mit meiner Mutter im dritten Stock eines Hochhauses in Blockdiek. Das ist ein Ort in Bremen, der so aussieht wie er heißt – Kölner Straße 8, falls ihr mal dort vorbeikommt. Ich ging kaum mehr zur Schule, meine nahezu einzigen Highlights waren die Abende und Wochenenden, an denen ich mit meiner Querflöte in gleich zwei Spielmanns- und Musikzügen spielte, auftrat und Kinder unterrichtete, das Instrument zu lernen. Scheiß Schule. Scheiß Lehrer, scheiß Lernen. Ich kiffte lieber in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden und ging zu Lestra, Pommes rotweiß essen, anstatt eine Klassenarbeit zu schreiben. Die schlechten Noten wurden zurecht in den “Lappen” geschrieben.
Warum wollen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber eine Bewertung aus dieser Zeit sehen, in der die Schule mich nicht leiden mochte, und ich sie nicht? Sehen sie sich das Zeugnis an, sehen sie, dass es eine Zeit gab, in der ich verloren war, in der mich die Gesellschaft nahezu verloren hatte. Sie sehen ein Zeugnis, dass mich als dumm, faul und begriffsstutzig kategorisiert. Sie sehen, wie es Scheidungskindern geht. Sie müssen keine soziologischen Studien mehr lesen.
Ich war 1981 auf die Gnade der Schulkonferenz angewiesen, denn ich war ein Jahr zuvor schon einmal am Ende einer zehnten Klasse angekommen. Da standen noch mehr Fünfer in der schulischen Urkunde, sodass ich keine Versetzung in die Oberstufe bekam und in der Sekundarstufe I verhaftet blieb.
Meine Leistungen verbesserten sich in der Wiederholungsrunde nicht. Warum auch. Ich fühlte mich wie eine Niete, und so eine geht nicht in den Unterricht, in dem andere mit Bestleistungen triumphierten. Ich schrieb keine guten Noten, außer in Musik. Für meine Interpretation von Bizets Oper “Carmen” bekam ich eine Eins.
Ich war in dieser neuen zehnten Klasse auch nie integriert, ich wurde nicht integriert. Ich fand die meisten aus dieser Klasse doof und sie mich wohl auch. Auf eine Klassenfahrt nach Langeoog fuhr ich mit, doch inszenierten einige der braven, fleißigen Mitschülerinnen ein Tribunal, weil ich es gewagt hatte, einen Joint zu rauchen. Outlaw. Ganz unten. Scheiß Schule. Ihr könnt mich mal.
Es drohte der Rauswurf, denn zweimal sitzen bleiben konnte man nicht. Wie mein Zeugnis schließlich zustande kam, weiß ich nicht mehr. Vermutlich machten sich einige Pädagoginnen und Pädagogen für mich stark. Mit den vielen Vieren und der Fünf in Spanisch schriftlich ließ man mich ziehen. Das Zeugnis wurde dem Realschulabschluss gleichgestellt. Das war meine Freikarte. Und tatsächlich bekam ich trotz der miesen Noten ein Jahr später einen Ausbildungsplatz. In Hamburg.
Das Lernen an der Berufsschule machte Spaß, Fehlzeiten hatte ich keine. Bizets Carmen höre ich bis heute gern.