Hinter Gittern

huberVeröffentlicht im FREITAG, 30. Juni 2016

Sie stapelt die Brotscheiben, als würde sie einen längeren Ausflug planen. Dann umarmt Claudia*, 30 Jahre alt, zum Abschied mit vollbepackten Händen Gisela Huber und sagt: „Du verschönerst uns alle zwei Wochen das Leben.“ Sie sitzt im Frauengefängnis in Hamburg-Billwerder ein, drei Monate hat sich noch. Sie ist eine von derzeit 70 Frauen, die hier ihre Haftstrafen verbüßen müssen.

Zwei Stunden zuvor ertönte eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher in der Justizvollzugsanstalt: „Die Rotkehlchengruppe findet jetzt statt.“ Gisela Huber hat die Gesprächsrunde nach ihrem Lieblingsvogel benannt. Die 76-Jährige bietet die Gruppe seit neun Jahren ehrenamtlich zusammen mit einem Bekannten an. Nur zu zweit dürfen sie die Treffen stattfinden lassen. Beide wurden zudem drei Monate lang von einem Verein geschult, der straffällig gewordene Menschen unterstützt.

VIELE INSASSINNEN SIND MÜTTER

An diesem Nachtmittag sind es anfangs nur sieben Frauen, die sich an den Tisch in einem großen Gemeinschaftsraum setzen. Dann kommen immer mehr dazu. Stühle werden gerückt, einige verlassen den Raum wieder. Kaffee, Tüten-Cappuccino, Chips, Kekse und Weingummi werden herumgereicht. Es raschelt und knistert.

Die Frauen greifen zu, essen hastig. Sie bilden Häufchen von Süßigkeiten neben ihren Tassen, als gelte es einen Schatz zu sichern. Huber fordert die Frauen auf, sich vorzustellen, Vorname, Alter. Alle sagen außerdem, wie lange sie noch sitzen müssen. Die meisten werden in den nächsten Wochen und Monaten entlassen, eine hat noch drei Jahre vor sich.

Huber fragt nicht nach den Haftgründen. Sie gibt auch keine Ratschläge und kommentiert das Gesagte nicht. Mit ihrem ärmellosen Top, ihrer Jeans, ihren rotgefärbten, strubbeligen kurzen Haaren, ihrem rosa Lippenstift und ihrer Brille mit dem schmalen blauen Metallgestell wirkt sie wie eine von ihnen. Gleiche unter Gleichen. Sie konzentriert sich auf die Frauen. Das Geknirsche der Stuhlbeine auf dem kahlen Boden, das Rascheln und Knistern der mitgebrachten Naschereien stören sie nicht.

Erst im Frühjahr sind die Frauen umgesiedelt worden. Vorher saßen sie auf der niedersächsischen Elbinsel Hahnöfersand ein. Der Umzug in das Männergefängnis Billwerder war in der Hansestadt heftig umstritten, weil die Gefahr gesehen wurde, dass sich beide Geschlechter begegnen könnten. Das soll ausgeschlossen sein. Ein großer Bretterzaun trennt die Bereiche, gemeinsame Räumlichkeiten werden abwechselnd genutzt. Ein wesentlicher Nachteil für die Frauen bleibt aber: Auf der Insel konnten sie sich freier bewegen, in Billwerder müssen sie bei nahezu jedem Schritt von Beamtinnen und Beamten begleitet werden.

Warum kommt Gisela Huber hier jede Woche hin? Sie interessiere sich für Menschen, sagt sie. Schon ihr ganzes Leben lang. Eigentlich wollte sie von klein auf Sozialarbeiterin werden. Dann erkrankte sie an Rheuma und war drei Jahre lang im Krankenhaus, es folgte eine lange physiotherapeutische Behandlung. Das änderte ihren Berufswunsch: Fünf Jahrzehnte arbeitete sie als Physiotherapeutin.

Ihr Interesse an Menschen blieb und war umfassend: Wenn sie ein Kind behandelte, sprach sie mit der Mutter; kam ein Mann mit Schlaganfall zu ihr, redete sie auch mit dessen Ehefrau. „Ich habe meinen Beruf sozialpolitisch ausgeübt. Wenn es dem Kind schlecht geht, geht es der Mutter schlecht, wenn es dem Mann schlecht geht, auch seiner Frau.“ Ganze Familien hat sie auf diese Weise betreut. Manche sind auch noch gekommen, wenn die Therapie vorbei war.

In Deutschland sitzen zurzeit etwa 3.500 Frauen in Haft, das sind sechs Prozent aller Gefängnisinsassen landesweit. Im Frauengefängnis in Hamburg sitzen die meisten wegen Drogendelikten ein. Man findet hier jedes Alter, viele Nationen kommen zusammen. Etwa die Hälfte ist deutscher Herkunft. Viele sind zudem Mütter, ihre Kinder leben in Pflegefamilien oder bei Verwandten. Einige kommen schwanger oder zusammen mit ihren Säuglingen in Haft. Vier Mutter-Kind-Räume gibt es in Billwerder. Derzeit hat nur eine Frau ihren Sohn dabei. Sie ist 23 Jahre alt, er eineinhalb. „Es ist kein guter Ort für Kinder“, sagt Gisela Huber, „auch wenn es auf dem Hof einen Spielplatz gibt.“

Der Drogenkonsum zerstört Familien, er zwingt die Frauen oft in die Beschaffungskriminalität und die Prostitution. Oder sie können die Bußgelder nicht zahlen, wenn sie im Sperrgebiet anschaffen waren. Auf dem Straßenstrich in Hamburg St. Georg gilt zudem eine Verordnung, die jegliche Anbahnung von Sexgeschäften untersagt. Mehrere Tausend Euro Bußgeld können bei einer Zuwiderhandlung verhängt werden. Wer diese Beträge nicht zahlen kann, geht dafür ins Gefängnis. Freier mussten dafür noch nie in den Knast.

EIN KONTAKT NACH DRAUSSEN

Expertinnen wie die Bremer Psychologin Claudia Kestermann kritisieren außerdem immer wieder, dass im Strafvollzug zu wenig Rücksicht auf genderspezifische Unterschiede genommen wird: „Geschlechterorientierung in der Strafrechtspflege bedarf der Anerkennung der Lebensrealitäten von Frauen unter Einbeziehung ihres Werdegangs bis zur strafbaren Handlung und der Beziehungen, die ihr Leben prägen.“

Huber ist bei dem Hamburger Verein ragazza aktiv, den die Prostituierte und Streetworkerin Domenica Niehoff vor 25 Jahren gründete. ragazza ist bei den inhaftierten Frauen gut bekannt. Drogenabhängige Prostituierte können sich dort beraten lassen, kommen zur Ruhe. Es gibt dort auch den einzigen Konsumraum Deutschlands nur für Frauen. Huber kennt den Teufelskreislauf genau, sie hat das schon zu oft gesehen: Wo Hilfe gebraucht wird, sind Strafen sinnlos. Das Gefängnis demütigt, stigmatisiert. So ist es zum Beispiel so gut wie unmöglich, als Haftentlassene nach der Haft eine eigene Wohnung anzumieten.

Drogen sind auch der Grund, warum viele Frauen in der Justizvollzugsanstalt sich nicht lange konzentrieren können. Eine Stunde lang in einem Gemeinschaftsraum zu sitzen, zuzuhören, zu warten, bis man drankkommt, halten nicht alle hier aus. Es ist ein Kommen und Gehen. Neun bleiben nach einer halben Stunde sitzen. Sie kommen miteinander ins Gespräch und als Mareike* erzählt, dass sie seit fünf Tagen ohne Methadon sei, strecken ihr die anderen anerkennend ihre Daumen entgegen. „Respekt!“, ruft Claudia. „Methadon dämpft Dich so“, sagt Mareike. „Heute habe ich richtig viel gelacht.“

Die Anstaltsleiterin Rosemarie Höhner-Wysk findet die Gesprächsrunde wichtig. Jeder Kontakt nach draußen sei hilfreich, sagt sie. Die Frauen bekämen ein unabhängiges Feedback, nicht von Justizvollzugsbeamten. Damit würden sie lernen, sich einzuschätzen. Sie wünscht sich mehr davon, vor allem aber Einzelgespräche für die Frauen. 50 Menschen arbeiten hauptberuflich in Schicht im Frauengefängnis, doch Ehrenamtliche gibt es nur sehr wenige, die persönlich für die Frauen da sein könnten. Dabei wäre das Wichtig, um sie auf das Leben draußen vorzubereiten und sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Gisela Huber gibt den Frauen das Gefühl, auf Augenhöhe mit dem Draußen zu sein. Verlässt sie das Gefängnis, bleibt bei den meisten kein Wehmut zurück, sondern das Gefühl, dass die eigene Entlassung nicht mehr ganz so fern ist. Das gibt Hoffnung. „Können wir uns draußen treffen?“, fragt eine Frau sie. „Können wir“, sagt Gisela. „Hast Du schon mal jemanden von uns draußen getroffen?“, fragt die Frau weiter. „In den letzten Jahren nicht“, sagt Huber ganz offen.

Sie will und braucht im Gegensatz zu den inhaftierten Frauen keine Anerkennung. Sie hat sie in ihrem Beruf ausreichend erfahren. „Ich behandle diese Frauen wie normale Menschen und muss dafür nichts über sie wissen. Ich bewerte das, was sie mir erzählen, nicht. Wenn du mit Abhängigen zusammen bist, brauchst du die Größe, das nicht auszunutzen.“ Ein Grundsatz, den die inhaftierten Frauen zu schätzen wissen.

Ihn wendet Huber auch in den Hospizen an, die sie seit zwölf Jahren besucht. Sie hat gelernt, genau hinzuschauen, was jemand benötigt: „Die wenigsten brauchen es, beim direkten Übergang in den Tod begleitet zu werden“, lautet ihre Erfahrung. Und sie zieht den Vergleich: „Die einen sind gefangen im sterbenden Körper, die anderen im Gefängnis. Ich glaube, es tut Sterbenden wie Inhaftierten gut, Nähe zu spüren, die unaufdringlich ist.“

Einen halben Nachmittag lang können die Frauen mit Huber reden, sich über den Alltag im Knast aufregen, mit einander lachen, nachdenklich sein. Um sechs gibt es Abendessen. „Ohne Drogen kommt der Appetit zurück“, kommentiert sie, als sich die Frauen am Brot bedienen. „Mit ihr ist es immer korrekt“, sagt Claudia noch. Dann geht sie mit ihrem Stapel Brot schnell den Flur entlang in ihre Zelle. Um halb sieben ist Einschluss.

* Name geändert

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