Das Projekt „Zimmerfrei“ sucht Wohnraum für minderjährige Geflüchtete – das Team zieht nach einem Jahr Engagement Zwischenbilanz – Text und Video veröffentlicht auf hamburg.de
„Wahnsinn, was für ein toller Text“, dachte Sabine Vielhaben, als sie das Abendblatt vom 2. Mai 2016 aufschlug und in großen Buchstaben Hamburg sucht Gastfamilien für junge Geflüchtete fand: Ein Bericht über ihr Projekt! Monatelang hatte die Sozialpädagogin darauf hingearbeitet. Die Veröffentlichung schlug ein: Die Telefone von „Zimmerfrei“ standen anfangs nicht mehr still.
Harte Arbeit war dem vorweg gegangen. Und Vielhaben war nicht allein: Zusammen mit Jonas Ehrsam und Anne Plehn setzte sie eine Idee um, für die es kein Vorbild, geschweige denn Strukturen gab: Die drei sollten minderjährige unbegleitete Flüchtlinge aus Erstaufnahmeeinrichtungen herausholen, um sie schneller zu integrieren. Nun, ein Jahr später, zieht das Team Zwischenbilanz.
Sie konnten zwar auf die Erfahrungen und Infrastruktur der Lawaetz gGmbH, der Trägerin des Projekts, aufbauen. Doch war jede Menge Pionierarbeit zu leisten: Welche Formalitäten und Institutionen sind mit im Boot? Welche Gesetze gelten? Jugendämter, Vormünder, Jobcenter, der Landesbetrieb Erziehung und Beratung, sie alle waren irgendwie auch mit zuständig und hatten mitzureden. Das Team besuchte zunächst alle Institutionen und schaute sich Erstaufnahmeeinrichtungen an. Zielsetzung war und ist: Zimmer und kleine Appartements für selbstständige minderjährige Geflüchtete ab 16 Jahren innerhalb der Stadtgrenzen Hamburgs finden und vermitteln. Dafür sollten sie Hamburgerinnen und Hamburger finden, die passenden Wohnraum frei hatten.
Beide Seiten benötigen Sicherheiten – Geflüchtete wie ihre Hamburger Vermieterinnen und Vermieter
Die 58-jährige Vielhaben, die sich auch privat in der Flüchtlingsarbeit engagiert, sagt: „Es ist ein beachtlicher Schritt, auch privaten Wohnraum zu teilen. Ich war erstaunt, wer sich ab dem 2. Mai bei uns meldete: Vor allem Hamburgerinnen und Hamburger aus dem gutbürgerlichen Milieu, die eher am Stadtrand leben – Sasel, Volksdorf, Bergstedt. Und aus den migrantischen Communities.“
Sozialökonom Jonas Ehrsam kam direkt von der Uni zum Projekt. Der 32-Jährige wollte genau diese Arbeit: jugendlichen Geflüchteten helfen. Praktisch, konkret. „Das bedeutete aber auch, dass ich nicht allen auf einmal helfen konnte. Ich muss eine Auswahl treffen. Und immer abgleichen ob Suchende und Anbietende zu einander passen.
Es gibt Ansprüche an den Wohnraum. Letztlich aber entscheidet der persönliche Eindruck
Zunächst verschaffen sich Ehrsam, Vielhaben und Plehn einen eigenen Eindruck, wenn jemand ein Zimmer anbot. Faustregel: „Der Jugendliche – zu 90 Prozent sind es junge Männer, die ein Zimmer suchen – muss die Möglichkeit haben, sich einzubringen.“ Erst dann wurde ein Vermittlungsprozess in Gang gesetzt. „Ein Zimmer muss zudem mindestens zwölf Quadratmeter groß und abschließbar sein“, sagt Ehrsam. Haustiere, die bei Muslimen eher unüblich sind, sind zum Beispiel kaum ein Problem: „Sie verstehen zwar oft nicht die Neigung der Deutschen, mit Hund oder Katze eng zusammen zu leben. Aber einige hatten auch bei sich zu Hause ein Tier, manchmal sogar einen Wolf. Die Vermieterinnen und Vermieter benötigen außerdem ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis.“
In der zweiten Phase lernen sich Anbieterin oder Anbieter und die Jugendlichen kennen. Sprachprobleme gibt es in der Regel keine: „Die Geflüchteten sind ja bereits einige Zeit lang hier. Sie haben schnell gelernt und sprechen gut Deutsch.“, berichtet Ehrsam. Und die Sorge, dass ein muslimischer, männlicher Jugendlicher Probleme mit modernen Frauen hat, konnten das Team und vor allem die Minderjährigen selbst meist schnell ausräumen – spätestens in dem Moment, wo man sich kennen lernte.
Haben die Jugendlichen bestimmte Vorstellungen, wie sie leben möchten? „Das ist wie bei den hier Aufgewachsenen. Die einen sind eher gesellig, andere wollen mehr für sich sein. Ein schwules Paar hat einen jungen Eritreer aufgenommen. Die Homosexualität der Männer war für den Jungen überhaupt kein Thema. Aber es gibt wiederum schwule Jugendliche, die unbedingt aus den Erstaufnahmeeinrichtungen heraus wollen, weil sie dort diskriminiert werden – es muss aber wiederum kein schwules Paar sein, das diese Jungen aufnimmt“, sagt Vielhaben.
Loell aus Syrien lebte auf, wurde kindlicher. Er holte nach, was er verpasst hatte.
Sie erinnert sich an Loell* aus Syrien, der im Krieg seine ganze Familie verloren hatte. Trotz seiner 16 Jahre wirkte er sehr erwachsen: „Als wir ihn in eine Familie vermittelt hatten, lebte er richtig auf, wurde kindlicher, holte nach, was er verpasst hatte.“ Oder Nesar, mittlerweile 18 Jahre alt, aus Afghanistan. Er kam 2015 nach Hamburg, stand morgens um 9 Uhr auf dem Hauptbahnhof, sprach wie alle Ankommenden kein Wort deutsch. Eineinhalb Jahre später hat er das Sprachniveau B2 erreicht und bereitet sich derzeit auf seinen deutschen Schulabschluss vor. Er lebt bei Burkhard Bujotzek und Elisabeth Escales in Volksdorf. Das Ehepaar hatte schon immer Zimmer für junge Gäste frei. Zunächst Au-pair, später Austauschschüler. Jetzt sind bis auf den jüngsten Sohn alle Kinder aus dem Haus, viele Zimmer in ihrem Haus sind unbenutzt. Das Ehepaar ist katholisch, Nesar ist Muslim – kein Problem: Ihrer beider Religionen sind tolerant. Nesar darf sogar Freunde einladen. Und räumt anschließend sorgsamer auf, als die eigenen Kinder das jemals getan hätten, erzählt Elisabeth Escales.
„Zimmerfrei“ hat einen guten Start hingelegt. Das Projekt wurde von den Hamburgerinnen und Hamburgern angenommen: 35 Mietverhältnisse sind schon zustande gekommen. Es bricht aber niemand ins Jubeln aus, niemand lehnt sich selbstzufrieden zurück. Von insgesamt 92 Meldungen für potenzielle Vermietungen konnten Zweidrittel realisiert werden. 24 Angebote wurden nach einer Erstberatung zurückgezogen. Jonas Ehrsam und seine Kolleginnen haben Verständnis dafür. Denn man bekommt ja nicht nur einen Mieter. Man bekommt einen jungen Menschen in den Haushalt, der viel durchgemacht und Elend, Tod und Sterben gesehen hat. Der wahrscheinlich Gewalt erfahren haben wird; der viel zu früh erwachsen werden musste; der seine seelische Verletzungen verdrängt: Die Minderjährigen leiden zwar oft an Schlafstörungen, geben sich aber fröhlich und humorvoll, berichten Vielhaben, Ehrsam und Plehn. Manche hingegen sind aber auch eher ernst und verschlossen. Auch deswegen erledigen die drei von „Zimmerfrei“ eine wichtige Aufgabe: In einem eigenen Zimmer kann man zur Ruhe kommen. Auch das hilft bei der Integration, nach vorne zu schauen und eine Zukunft zu planen.
Damit sich das Zwischenmenschliche gut entwickeln kann, sind außerdem klare Rahmenbedingungen bedeutsam: „Grob gesagt ist es ein Untermietverhältnis“, sagt Ehrsam. „Wir verfolgen einen partnerschaftlichen Ansatz, wozu Akzeptanz gehört. Wenn der Jugendliche lieber alleine essen möchte, muss das möglich sein. Wenn jemand Familienanschluss sucht, ist keine alleinstehende Person geeignet, die jeden Tag zehn Stunden nicht zuhause ist. Manchmal wollen die Vermieterinnen und Vermieter mit den Jugendlichen zusammen kochen. Daran haben die aber nicht unbedingt ein Interesse. Manche suchen Ersatzeltern, andere nicht.“ Es gilt daher, herauszufinden, wer gut zusammen passt.
Minderjährige Geflüchtete sind wie alle jungen Menschen – haben verschiedenste Wünsche, Hoffnungen, Geschichten
70 Minderjährige, die aus Kriegsgebieten nach Deutschland gekommen sind, stehen derzeit auf der Bewerbungsliste von „Zimmerfrei“. Die meisten stammen aus Afghanistan, Syrien und Eritrea, aber auch aus Gambia, Marokko, Ghana, Somalia, Ägypten oder Guinea-Bissau, Iran, Irak. Sie haben Wünsche, Hoffnungen, Geschichten. Wie alle jungen Menschen, egal wo sie geboren sind. Und sie haben ein gutes Gespür dafür, was ihnen gut tun würde. Nesar sagt: „Ich bin in einer Klasse nur mit Ausländern zusammen. Das macht es schwer, die Deutschen kennenzulernen, obwohl ich bei Burkhard und Elisabeth wohne.“ Er möchte gern mit Deutschen, vor allem Gleichaltrigen, Freundschaften schließen. Er will diese Gesellschaft unbedingt besser kennenlernen, die ihm Schutz bietet.
Freunde finden, die Isolation aufbrechen, zusammen leben – das ist wichtig. Deswegen bemüht sich das „Zimmerfrei“-team neben der sozialen Wohnraumvermittlung darum, dass die Jugendlichen gemeinsame Aktivitäten erleben: So werden zum Beispiel Ferienfreizeiten organisiert. Und es werden die Vermieter zusammengebracht. „Es ist wichtig, dass sich alle über ihre Erfahrungen austauschen“, sagt Jonas Ehrsam. Das kommt gut an. Die Vermieter fühlen sich ernst genommen und wertgeschätzt. Auch das Volksdorfer Ehepaar Burkard Bujotzek und Elisabeth Escales sind mit der Betreuung zufrieden.
Das Projekt ist zunächst bis Ende 2017 befristet. Derzeit finden Gespräche statt, wie es weitergeht. Der Bedarf für diese Vermittlungsstelle ist da, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projektes sind motiviert – und haben ihre Kompetenz unter Beweis gestellt: Erst zweimal ist ein Mietverhältnis abgebrochen worden.
Dass „Zimmerfrei“-Team hofft, dass es mit ihrem Projekt weiter geht: Hamburg hat die Möglichkeiten, Geflüchtete mehr als Massenunterkünfte zu bieten: ein neues Zuhause oder ein Zuhause auf Zeit.
Kontaktdaten Zimmerfrei
zimmerfrei@lawaetz-ggmbh.de
040 716 68 76 50
www.zimmerfrei-lawaetz.de
* Name geändert