veröffentlicht im FREITAG 9/16 vom 3. März 2016
Körbe mit geschnittenem Brot stehen auf den Tischen, dazu Schalen mit Butter und Marmelade. In den Fächern eines schmalen Regales stapeln Handtücher. Im Wohnzimmer liegen Tageszeitungen aus. Kemenate, der Tagestreff für wohnungslose Frauen in Hamburg, öffnet in einer Stunde.
Eine, die regelmäßig vorbei schaut, ist Martina Junge*. Noch steht die schmale Frau mit Mütze, dicker Jacke, Jeans und schwarzen Stiefeln in der Februar-Kälte vor der Tür und raucht. Sie hat Lippenstift aufgelegt, unter den Augen einen dünnen Kajalstrich gezogen. „Das ist drinnen nicht erlaubt.“, sagt sie und pustet den Qualm nach oben.
Für unser Gespräch setzen wir uns an den Tisch, auf dem die Zeitungen liegen. Martina setzt ihre Mütze ab, öffnet den Reisverschluss ihrer Jacke. „Vor allem die politischen Berichte“ in der Zeitungen interessieren sie. Die Flüchtlinge tun ihr Leid. „Wer geht schon freiwillig aus seiner Heimat fort? Wenn die Rahmenbedingungen stimmen würden“, sagt sie, „würden die Menschen doch zuhause bleiben, das sollen sich die Politiker mal vergegenwärtigen!“ Ein bisschen viele kämen mittlerweile ja schon hierher, meint sie und findet es nicht gut, dass die anderen europäischen Länder so viel weniger Menschen aufnähmen als Deutschland. Außerdem stehe in den Zeitungen viel zu wenig über Obdachlosigkeit und Wohnungsnot.
Einfach abgehauen
Martina hat es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Vor drei Jahren haute die 49-Jährige ab. Sie sagte ihrem Mann, sie wäre mal Zigaretten holen und kam nicht wieder. Zurückgelassen hat sie auch ihre damals 13-jährige Tochter. „Es gab andauernd Streit, meine Tochter konnte nicht mehr lernen. Es war einfach zu viel Stress.“ Von Stress spricht die ehemalige Verkäuferin nd Büroangestellte öfter. Wegen „Stress“ sei sie krank geworden, hatte Aufenthalte in der Psychiatrie. Ihre Arbeit im Büro verlor sie wegen zu vieler Krankschreibungen. Neue Jobs scheiterten deswegen bereits in der Probezeit. Der „Stress“ sei nun vorbei, sie habe ja jetzt Zeit. „Zeit ist manchmal wichtiger als Geld“, sagt Martina. Seit letztem Jahr ist sie nun geschieden.
Als sie damals fortging, dachte sie, sie würde schnell ein Zimmer finden. Irgendwo, genau überlegt hatte sie das nicht. Der Stress trieb sie aus der Enge der Familie, der Ehe hinaus. Zunächst übernachtete sie bei Freunden. Die konnten Martina keine Bleibe auf Dauer anbieten. Auch bei ihrer Mutter war kein Platz. Sechs Wochen überbrückte sie mit einem Zelturlaub auf Sylt. „Ich habe dann doch nochmal wieder zu Hause übernachtet. Nur ein paar Mal, dann wusste ich, dass es gar nicht mehr geht. Mein Mann hielt sich für den Mittelpunkt der Welt. Er war nicht gewalttätig, aber ich habe den ständigen Streit nicht mehr ausgehalten.“
Martina zog ins Frauenzimmer. Das ist eine städtische Unterkunft mit 30 Betten in Zwei- bis Vier-Bett-Zimmern in Wohnungen auf mehreren Etagen eines normalen Wohnhauses verteilt. Sie fand dort Ruhe, fühlte sich wohl: „Es war die beste Zeit meines Lebens.“, blickt sie zurück. Doch Frauenzimmer ist eine Erstaufnahme, sie musste bald Platz machen für andere Frauen in akuter Not. Sie wechselte in eine Wohnunterkunft, die ebenfalls nur Frauen aufnimmt, eine mit 100 Betten auf Einzel- und Doppelzimmer verteilt. Von langen Fluren gehen die schlicht eingerichteten Zimmer – Tisch, Stuhl, Bett, Schrank, Waschbecken – ab. Es gibt ein Gemeinschaftsbad und eine Küche pro Etage. Es gefällt ihr dort nicht: „Das ist zu weit ab vom Schuss. Du musst morgens schon den ganzen Tag planen, kannst nicht mal zwischendurch zurück fahren. Die Duschen sind dreckig. Es schaut auch mal ungefragt der Handwerker rein.“ Auf ihrem Zimmer kann sie weder Musik hören oder tanzen, denn die andere Dame, die es mit ihr bewohne, schlafe sehr viel: „Ich muss immer leise sein.“
Doch der „Stress“ ist bislang nicht zurückgekehrt. Sie bezieht jetzt Frührente. Sie hat keine Auseinandersetzungen mit Ämtern, muss keine Formulare ausfüllen, wird nicht mit Auflagen und Terminen konfrontiert. Sie kommt mit dem Geld zurecht. So nutzt sie die Kleiderkammern der Wohnunterkunft und auch die bei Kemenate.
Jedes Jahr steigt die Anzahl an Menschen, die ohne eigene Wohnung sind. Für das Jahr 2016 konstatiert die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe e.V. 380.000 wohnungslose Menschen, der Frauenanteil beträgt ein gutes Viertel. Nur die wenigsten Wohnungslosen leben auf der Straße, geschätzte 39.000 Menschen. Eine bundesweite Wohnungslosenstatistik gibt es bis heute nicht.
Wer einmal raus ist, hat es schwer.
Wohnungslose kriegen keinen Mietvertrag
In Hamburg stehen 900 Plätze dauerhaft für Menschen ohne Obdach zur Verfügung, 150 davon ausschließlich für Frauen. Susanne Gerull, Berliner Professorin für soziale Arbeit, kommt in ihrer aktuellen Studie „Wege aus der Wohnungslosigkeit“ zu der Erkenntnis, dass Deutschland im europäischen Vergleich mit Notunterkünften für Wohnungslose zwar „insgesamt gut ausgestattet“ sei. Aber vor allem wohnungslose Frauen würden verdeckt bzw. versteckt leben. Oder in Zwangspartnerschaften. Außerdem nähmen sie professionelle Hilfe besonders selten in Anspruch. Oft aus Scham, betont Gerull. Wohnungslose Menschen sind in der Regel auf Sozialleistungen angewiesen, leiden an psychischen Erkrankungen. Die wesentlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen läge in der Gewaltbetroffenheit, beschreibt es Gerull. Um nur ein Obdach zu haben, lassen sich Frauen zudem häufig sexuell ausbeuten.
Die Tochter besucht sie nie
In der Kemenate frühstücken die Frauen gemeinsam, können Waschmaschine und Trockner nutzen sowie duschen, lesen. Computer, Internet und Drucker stehen kostenlos bereit. Es sind wichtige Angebote: Vermieter wollen nur eingescannte Unterlagen haben, sagt Martina. Zeitweise habe sie jeden zweiten Tag eine Wohnung besichtigt. Eine Rückmeldung habe sie nie bekommen.
Mehr als jede fünfte wohnungslose Frau hat minderjährige Kinder. Zusammenleben können nur die wenigsten mit ihnen. Auch Martinas Junges Tochter blieb beim Vater, der das alleinige Sorgerecht bekam. Alle zwei Wochen dürfen sich Mutter und Tochter sehen. Manchmal treffen sie sich öfter, immer auf der Straße. In der Wohnunterkunft habe die Tochter sie noch nie besucht, Martina weiß nicht genau, warum. Dass ihre Tochter mittlerweile wieder gute Noten schreibt, darauf ist sie stolz. Sie ist überzeugt, dass es deswegen richtig gewesen ist, fortgegangen zu sein.
Wenn sie sich nicht in der Kemenate aufhält, geht Martina in einen Sportverein, macht dort Gymnastik. Manchmal besucht sie Vorlesungen an der Universität. Theologie interessiert sie besonders. Sie wollte sich auch schon einmal politisch engagieren, schrieb mehrere Parteien an. Die Einzigen, die geantwortet hätten, seien die Grünen gewesen. Doch dass sie in dem Anschreiben geduzt wurde, hat sie dann so verärgert, dass sie den Brief weggeworfen hat.
„Wohnen gehört zu den existenziellsten Lebensbereichen“, sagt Susanne Gerull. „Für die meisten Menschen ist die eigene Wohnung der Mittelpunkt ihrer sozialen Existenz und kann nicht mit anderen Dingen kompensiert werden.“ Doch die Diakonie stellte 2014 fest, dass Vermieter gegenüber wohnungslosen Menschen teilweise starke Vorbehalte hätten und kaum Wohnraum an sie vermittelt würde. Wohnungslose seien oft chancenlos und säßen in den Unterkünften fest. Wer einmal raus ist, dem fällt es schwer, wieder Fuß zu fassen.
Eine Nationale Strategie fordert daher die BAG Wohnungslosenhilfe. In einem Aufruf schlägt sie eine Reihe von Maßnahmen, um den Verlust von Wohnraum und Straßenobdachlosigkeit zu verhindern. Zum Beispiel seien Förderprogramme auf kommunaler, Landes- und Bundes- und Europaebenen nötig. Da nur 16 Prozent der Wohnungslosen erwerbsfähig seien und die Arbeitslosigkeit unter ihnen 90 Prozent betrage, bedürfe es einen dauerhaft öffentlich geförderten Sektor für Langzeitarbeitslosigkeit. Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft müssten abgeschafft werden.
Junge gibt die Hoffnung auf eine eigene Wohnung nicht auf. Sie ist nicht abergläubisch, glaubt eigentlich auch nicht an Horoskope, aber sie ist überzeugt: Stiere wie sie sind durchsetzungsstark. Sie wünscht sich, mit ihrer Tochter zusammenzuleben, oder sie wenigstens zu sich einladen zu können, um ein Spiel zu spielen, auf dem Sofa zu sitzen, mit ihr Hausaufgaben machen, für sie zu kochen. „Ich habe früher Kekse mit ihr gebacken. Das würde ich gerne wieder tun.“ Sie wünscht sich ein eigenes Bad, will laute Musik hören und tanzen, wann sie will. Sie will keine Kompromisse mehr eingehen müssen: „Ich will wieder leben, wie eine normale Frau.“
* Name geändert. Martina Junge hat dem Gespräch mit einer Journalistin unter der Voraussetzung zugestimmt, dass ihr Name und ihr Gesicht nicht in der Zeitung erscheinen. „Meine Tochter soll das nicht über mich lesen“.
Als „Kemenate“ wurden im Mittelalter Kaminzimmer in Burgen genannt, noch früher war es die Bezeichnung für einfache Wohnbehausungen, die häufig nur von Frauen bewohnt wurden.