§219a: das Selbstbestimmungsrecht auf freien Informationszugang/Interview

Aus: ANFNEWS, 4. Dezember 2017

Als Vorsitzende von Pro Familia Hamburg plädiert Kersten Artus für ein Selbstbestimmungsrecht auf freien Informationszugang und solidarisiert sich mit der Frauenärztin Kristina Hänel.

Die Frauenärztin Kristina Hänel wurde im November vom Landgericht Gießen zu einer Geldstrafe von insgesamt 6.000 Euro verurteilt. Mustafa Menge sprach für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika mit Kerstin Artus, der Vorsitzenden von Pro Familia Hamburg.

Als Ärztin wurde Kristina Hänel wegen Abtreibungswerbung verklagt und zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt. Können Sie kurz über den Prozess berichten?

Richterin und Staatsanwalt haben von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass für sie eine Information über Schwangerschaftsabbrüche dasselbe ist wie eine Werbung. Deutlich wurde auch, dass sie einen Abbruch nicht als einen normalen medizinischen Eingriff sehen. Außerdem soll über Abbrüche nicht öffentlich gesprochen werden. Das – kurz gesagt – zusammengezogen hat zu der Verurteilung geführt. Dazu muss man aber auch sagen, dass es bislang noch nie einen Freispruch nach §219a gegeben hat.

Das Amtsgericht argumentierte mit folgender Aussage: „Der Gesetzgeber möchte nicht, dass über den Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit diskutiert wird, als sei es eine normale Sache.“ Haben Sie mit diesem Urteil gerechnet?

Schwangerschaftsabbrüche sind nicht schön, aber sie sind normal. Es ist weltfremd, das zu negieren. Ich hatte gehofft, dass die Richterin den Mut hat, ihren Spielraum zu nutzen und die Realität anzuerkennen. Den hätte es gegeben, in dem sie den § 219a als Relikt aus der Vergangenheit bewertet. Im Zeitalter des Internets kann man nicht so tun, als ließen sich Informationen unterdrücken. Außerdem steht das Recht auf Information für Frauen sowie die Berufsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten gegen den 219a. Der Richterin fehlte aber leider die Fähigkeit, über den Tellerrand der bisherigen Rechtsprechung hinauszusehen. Ich fand sie wirklich auch fern vom realen Leben.

Warum ist Information über Abtreibung ein Verbrechen? Warum ist es nicht möglich, über einen Schwangerschaftsabbruch öffentlich Auskunft zu geben?

Die Information über Schwangerschaftsabbrüche ist so lange ein Verbrechen, wie das Verbot im Strafgesetzbuch steht und Ärztinnen und Ärzte darüber informieren. Es kann ja auch heute schon umfassend über Schwangerschaftsabbrüche informiert werden, aber nur diejenigen dürfen das, die keinen Vermögensvorteil daraus ziehen. Die Freie und Hansestadt Hamburg beispielsweise führt auf ihrem Internetauftritt eine Liste mit allen Institution und Praxen in Hamburg, die Abbrüche anbieten. Warum die anderen Bundesländer das nicht auch machen, ist mir schleierhaft. Die Kriminalisierung von Aufklärung durch Ärztinnen und Ärzte kann nur dadurch beendet werden, indem der §219a gestrichen wird.

Meinen Sie nicht, dass eine Frau genauso ein Recht auf Abtreibung hat wie auf das Gebären eines Kindes?

Ich sehe das so. Lebensschutz verwirklicht sich nicht dadurch, dass Frauen daran gehindert werden, eine Schwangerschaft abzubrechen. Dann wählen sie andere, gefährlichere Methoden. Bis hin zu Extremen wie Suizid oder der Kindstötung nach der Geburt. Lebensschutz verwirklicht sich nur dann, wenn Frauen freie Entscheidungsmöglichkeiten haben. Ein Land wie Kanada hat das bewiesen: Dort sind Abbrüche seit 1988 komplett straffrei. Die Abbruchzahlen in Kanada sind rapide gesunken wie auch die Müttersterblichkeit.

Am Prozesstag haben sich Tausende mit Dr. Kristina Hänel solidarisiert. Mehr als 130.000 Menschen unterstützen ihre Petition. Haben Sie mit solch einer großen Unterstützung gerechnet?

Da hat niemand mit gerechnet. Offenbar haben mehrere Effekte dazu geführt: Die Unkenntnis darüber, dass Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland immer noch verboten sind sowie dass der jahrelang funktionierende Kompromiss, dass Abbrüche unter bestimmten Bedingungen straffrei sind, nicht mehr ausreicht, um diese elementaren Frage einer zivilisierten, modernen Gesellschaft zu beantworten. Sicherlich auch das nach rechts gerückte Klima in unserem Land: Man will sich von so genannten Lebensschützern nicht mehr einschüchtern lassen. Es ist jetzt genug, die Hasskampagnen müssen vorbei sein. Wie gegen Rassismus wehren sich immer mehr Teile der Gesellschaft gegen reaktionäre Lebens- und Menschenbilder und gegen Sexismus.

Nach diesem Fall steht die Debatte über eine Änderung der Abtreibungsgesetze auf der Tagesordnung. Erwarten Sie eine Veränderung? Was möchten Sie den parlamentarischen Parteien und Frauenorganisationen sagen?

Ein neues zivilisatorisches Bündnis gegen Reaktion und Dogmatismus muss den 219a zu Fall bringen. Dazu wünsche ich mir auch die FDP und die CDU. Wer emanzipierte, gleichgestellte Frauen möchte, darf ihnen das Selbstbestimmungsrecht auf freien Informationszugang nicht verwehren. Die generationsübergreifende neue Frauenbewegung ist zudem erst in Fahrt gekommen. Sie hat aber enorme Wucht: Sie wird einen langen Atem haben. Sie wird immer größer.

YENİ ÖZGÜR POLİTİKA

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