Die Zeitung MittenMang hat ein Interview mit mir in zwei Teilen in ihren Februar- und März-Ausgaben veröffentlicht. Hier ist es dokumentiert.
Kersten, was sind die Konsequenzen aus Köln?
Zum einen: Die Kölner Polizei hat die Situation auf dem Bahnhofsvorplatz an Silvester falsch eingeschätzt. Offenbar hatte sich die Polizeileitung auf diffuse Terrorwarnungen islamistischer Selbstmordattentäter eingestellt, anstatt auf die Abwehr vom Terror gegen Frauen. Die Beamtinnen und Beamten vor Ort haben sich offenbar auch nicht ausreichend um die Frauen gekümmert, die um Hilfe gebeten haben. Der Rücktritt des Polizeipräsidenten ist aus meiner Sicht ein Bauernopfer gewesen. Erfahrungsgemäß sind solche Vorfälle immer nur die Spitze des Eisberges von strukturellen Problemen. Da wurde anscheinend jahrelang schlechte Arbeit gemacht, die städtische und die Landesregierung sind ihren Aufgaben nicht ausreichend nachgekommen.
Zum anderen besteht eine Lücke im Sexualstrafrecht. Frauenrechtsorganisationen wie Terres des Femmes weisen darauf seit Jahren hin. Die Definition von Vergewaltigung ist immer noch zu lasch. Um die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen zu stärken, bedarf es Änderungen der §§ 177 und 179 Strafgesetzbuch. Die Istanbuler Konvention dazu gibt es bereits seit 2011.
Zum dritten ist der gesellschaftlich tief verankerte Rassismus in neuer Massivität offenkundig geworden. Summiert man das mit den fast täglichen Angriffen auf Flüchtlingsheime, den steigenden Umfragewerten der AfD und dem opportunistischen Verhalten unserer Regierungen, die Asylrechtsverschärfungen planen und umsetzen, ergibt sich ein Bild, das mit dem Mantra der Kanzlerin, „Wir schaffen das.“, nicht mehr viel zu tun hat. Das Asylrecht muss vielmehr gestärkt werden, das ergibt sich bereits aus der Genfer Flüchtlingskonvention.
Wenn man einmal von der juristischen Ungenauigkeit absieht: Hat Sahra Wagenknecht mit ihrer kontroversen Aussage “Wer sein Gastrecht missbraucht, der hat sein Gastrecht eben auch verwirkt!“ wirklich vollumfänglich unrecht?
Nein. Zur Kenntnis nehmen sollten auch KritikerInnen im linken Lager, dass im Protokoll der Genfer Flüchtlingskonvention klar gestellt ist, dass sich Flüchtlinge nicht auf das Verbot der Aus- oder Zurückweisung berufen können, wenn sie aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Sicherheit oder für die Allgemeinheit des Staates bedeuten. Sahras Satz verleitet dennoch zu Fehlinterpretationen, daher war er unangemessen. Ich kann das richtige zu einem falschen Zeitpunkt sagen. Menschen wie Sahra Wagenknecht müssen nun mal jedes Wort, das sie aussprechen, auf die Goldwaage legen. Kein Satz, der in ein Mikro gesprochen wird, ist privat und kann immer missbraucht oder einfach nur falsch verstanden werden. Die Verantwortung ist enorm und bedeutet einen immensen Druck. Da passieren Fehleinschätzungen und Fehler. Sahra gehört neben Gregor Gysi wohl zu den GenossInnen, die am meisten von unseren politischen Gegnern gehetzt, denunziert und falsch dargestellt werden. Ich würde Sahra nie unterstellen, dass sie sich an Rechtspopulisten anlehnt. Das finde ich rufschädigend und – wenn es aus unseren Reihen kommt – im höchsten Maß unsolidarisch. Partei und Fraktionsvorstand haben anschließend alles zum Gastrecht in Bezug auf die Vorfälle in Köln an Silvester klargestellt und sich damit solidarisch und verantwortungsbewusst verhalten – ich teile das vorbehaltlos. Diese Solidarität erwarte ich von allen Aktiven unserer Partei, anstatt sich über die sozialen Medien über Sahra zu echauffieren – bei aller berechtigten Kritik. Beispielsweise hat niemand von den linken KritikerInnen direkt auf dem Facebookprofil von Sahra geäußert, sondern nur über sie. Mein Vorschlag, direkt an Sahra zu schreiben, wurde nur sehr verhalten angenommen. Ich finde im Übrigen den Vorwurf, man dürfe der AfD keine Argumente, bzw. „Steilvorlagen“, liefern, albern und apolitisch. Nazis und Rechtspopulisten prangern seit jeher soziale Ungerechtigkeiten an und üben sogar Kritik am Kapitalismus. Wäre die Konsequenz, die Verelendung der Menschen und nicht mehr anzusprechen, den Kapitalismus sich selbst überlassen, unsere Forderungen verschweigen?
„Steile Berge, feuchte Täler“: Mit diesem Spruch und einem entsprechenden Bild wollte ein Städtchen kürzlich Touristen anlocken. Wenn es nach der SPD geht, wird es diese Art Werbung bald nicht mehr geben. Kersten, was hältst du von einem Verbot geschlechterdiskriminierender Werbung? Großspurig will die SPD 2016 zu einem Jahr für die Frauen machen. Ist für dich dieser SPD-Vorstoß überhaupt glaubwürdig?
Wenn das bedeutet, dass die SPD eine Kanzlerkandidatin vorschlagen wird, könnte ich die Kampagne vielleicht ernst nehmen. Wird sie aber nicht. Es geht darum: Frauen sind eine wichtige Zielgruppe bei den Wahlen. Die Parole ist eine Phrase, Teil einer Show. Was Frauenministerin Schwesig und Arbeitsministerin Nahles bislang hingelegt haben, ist mir nicht frauenfreundlich genug. Von einem angemessenen Mindestlohn hätten vor allem Frauen profitiert. Und dass Frau Schwesig das selbst von der SPD massiv bekämpfte sexistische Betreuungsgeld verteidigen musste, war doch ein Treppenwitz! Auch dass das Mutterschutzrecht im Jahr drei der Wahlperiode noch nicht erneuert wurde, ist ein Skandal. Und wer außerdem die Bedarfsgemeinschaften von Hartz IV weiter Aufrecht erhält, die vor allem Frauen in Zwang und Armut hält, kann sich nicht glaubhaft für Frauenrechte aufschwingen. Letztlich: Wer eine linke Alternative zur Großen Koalition nicht einmal diskutieren will, kann kein Gesellschaftsmodell entwickeln, in dem Frauen wirklich gleichgestellt sind. Ich habe keinen Bock darauf, noch 86 Jahre bis zur Gleichstellung zu warten, wie das ein Wirtschaftsinstitut neulich mal errechnet hat.
Ich begrüße allerdings sehr, dass Frau Schwesig die aktuelle Vorlage des Prostituierten“schutz“gesetzes blockiert. Anstatt die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu stärken, setzt es auf Repression wie die verpflichtenden Gesundheitsberatungen oder die Kondompflicht.
Noch drei kurze Sätze zur Werbung: Entwürdigende Darstellungen von Menschen möchte ich nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen. Der Werberat sollte mehr Rechte bekommen wie zum Beispiel Sanktionsmöglichkeiten. Werbungvertreibende Unternehmen sollten das Recht und die Pflicht haben, sexistische Anzeigen abzulehnen.
Kersten, unsere Welt ist stark geprägt von hypersexualisierten Bildern von weiblichen Körpern, die als verfügbar dargestellt werden. Gleichzeitig haben wir immer noch keine Sprache, um über ein intimes Miteinander offen zu reden. Trägt auch diese Sprachlosigkeit zu einem Klima bei, das Übergriffe normalisiert? Und wie kann man diese Sprachlosigkeit zwischen den Geschlechtern ändern?
Ich finde nicht, dass es eine Sprachlosigkeit gibt. Vielmehr werden die politischen Ursachen und ihre Auswirkungen auf sexuelle Bedürfnisse tabuisiert und mit Moralvorstellungen belegt. Ich würde Sexualpädagogik besser fördern und Erwachsenen mehr Möglichkeiten anbieten, die sich lebenslang entwickelnde Sexualität besser zu verstehen. Welche Sprachlosigkeit meinst Du also? Welche Intimität? In der Schule, in Elternhäusern? Unter Männer, unter Frauen, Männer und Frauen miteinander? Oder in der LINKEn? Ich bewege mich in Umfeldern, in denen sehr offen über Sexualität und Intimes geredet wird.
Dass sich Schwule, Lesben und Trans*menschen wie Intersexuelle outen, ist doch ein Meilenstein. Dass „schwule Sau“ auf Schulhöfen immer noch ein Schimpfwort ist, spricht aber auch für jede Menge Verklemmtheit unserer Gesellschaft. Auch in unseren Reihen haben vor allem Heteromänner immer noch ein Problem mit Schwulen – ich bekomme immer wieder kleine anzügliche Spitzen mit. Als wenn ein Schwanz nicht auch in einem Männerhintern stecken darf. Oder weiß jemand, der/die nicht lesbisch ist, was ein Lecktuch ist? Homosexualität liegt leider immer noch in einer subkulturellen Grauzone. Es geht um andere Lebens- und Liebensweisen, um eine Alternative vom christlich geprägten heteronormativen Kleinfamilienmodell. Wir sollten das als Bereicherung verstehen.
Als Mitglied von Pro Familia wirke ich daran mit, dass die letzten Tabus aufgebrochen werden. Leider wird der Sexualpädagogik noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, Teile der Gesellschaft sind unaufgeklärt, trotz sexualisierter Werbung und Medien.
Es wird zudem ja auch viel geheuchelt, beispielsweise über die Institution Ehe. Als wenn sie die Krönung einer Liebe ist. Das ist doch Blödsinn. Eine Ehe ist ein staatlich anerkanntes Bündnis, das Schutz garantiert und finanzielle Vorteile bringt – aber eben auch unendlich viel Leid bringt wie Armut, Gewalt und sexuelle Einschränkungen. Die Ehe muss geöffnet werden, jede Partnerschaft und verbindliche Zusammenslebensform – doofes Wort, aber mir fällt kein objektiveres ein – muss staatlichen Schutz und Vorteile genießen.
Kersten, mag sein, dass du dich in Umfeldern bewegst, in denen sehr offen und erwachsen über Sexualität gesprochen wird. Aber ich stamme zum Beispiel vom Lande, aus dem Münsterland. Und wenn immer ich bei meinen alten Kumpels aus der Tennismannschaft zu Besuch bin, werden infantile „dreckige Witze und Bemerkungen“ gemacht. Im Sommer 2013 gab es einen riesengroßen Aufschrei, weil der damalige Spitzenkandidat der FDP, Rainer Brüderle, einer Journalisten gesagt hat, dass sie ein Dirndl auch ausfüllen könne. War dieser Aufschrei im Vergleich zu den Kölner Geschehnissen nicht völlig unverhältnismäßig? Darüber hinaus: Männerwitze können nach meiner Erfahrung Männer auch zusammenschweißen. Was soll daran schlecht sein?
Gegenfrage: Warum lachen wir nicht über Neger- und Judenwitze? Zum Brüderle-Porträt: Die „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich hat ein sensationelles Porträt über Rainer Brüderle verfasst, für das ich ihr heute noch Respekt zolle. Sie hat mit ihrem handwerklichen Können die Facette eines Politikers offen gelegt, die jeder und jedem anderen verborgen geblieben wäre. Gleichzeitig konnten sich eben viele Frauen damit identifizieren – sonst hätte es den #Aufschrei nicht gegeben. Der war ja vorher nicht von ihr geplant oder inszeniert worden.
Kersten, in den Sechziger-und Siebzigerjahren war bei der Linken im Westen eines der Hauptargumente gegen den Feminismus, dass er nur ein Nebenwiderspruch sei. Der Hauptwiderspruch war der Klassenwiderspruch. Auf dem Landesparteitag Ende November 2015 hat Gunhild Berdal, die ich in vielerlei Hinsicht schätze, deinen frauenspezifischen Flüchtlingsteil im Antrag coram publico abgelehnt. Glaubt Gunhild, dass der Feminismus nur ein Nebenwiderspruch ist? Und ist der Feminismus nicht tatsächlich nur ein Nebenwiderspruch?
Ich gehe von einer Verschränkung von Klasse und Geschlecht aus und keiner hierarchischen Anordnung. Das heißt, Klassenungleichheit und Geschlechterdiskriminierung sind nur zusammen zu erfassen und aufzulösen. Bourdieu entwickelte einen relationalen anstelle eines substantialistischen Klassenbegriffs, in dem eine Klassenposition sich nicht absolut, sondern immer nur in Relation zu den anderen Positionen im sozialen Raum definieren lässt. Außerdem müssen Alter und ethnische Zugehörigkeiten einbezogen werden, wenn wir heute Antworten auf die sozialen Ungerechtigkeiten geben wollen, wie ach den Stand der Bildung, der maßgeblich auf soziale Positionen in der Gesellschaft Einfluss nimmt. Ich finde sowieso, Bourdieu sollte in der LINKEn mehr gelehrt werden.
Frauen erleben eine doppelte Diskriminierung: Ihre Arbeitskraft müssen sie verkaufen, um zu überleben und sie leisteen in einem Höchstmaß unbezahlte Arbeit im Care-Bereich. Wenn sie sich befreien wollen, müssen sie beides überwinden – und kämpfen damit auch gegen das Patriachat, das älter als der Kapitalismus ist. Das können sie nur selbst. Allerdings benötigen sie die Solidarität und Unterstützung der gesamten unterdrückten Klasse. Ein Aspekt ist mir dabei sehr wichtig: Häusliche Gewalt ist neben der ökonomischen Diskriminierung die Hauptemanzipationsbremse. Sie hindert Frauen an politischer und kultureller Beteiligung, an Berufstätigkeit, an freier Entwicklung. Sie ist ein wirkungsvolles, auch in der LINKEn noch unterschätztes, Machtinstrument. In Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten ist es die systematische Vergewaltigung, Schwängerung, Versklavung und Vernichtung von Frauen.
Dann noch was zum Feminismus. Der ist kein Nebenwiderspruch, sondern eine gesellschaftliche Strömung und Befreiungsbewegung und damit richtigerweise integraler Bestandteil unserer parteilichen Programmatik. Er hat viele Ebenen, auch konservative und bürgerliche. Der Linksfeminismus ist eine Zwillingsschwester des proletarischen Feminismus. Tatsache ist leider, dass unter Linken oft der geschlechtsspezifische Blick fehlt. Das führt dann zu unerwünschten Ergebnissen, wie zum Beispiel unserem geringen Frauenteil in der Mitgliedschaft.
Unter dem Oberbegriff Feminismus kann man sicherlich auch die stark um sich greifende Genderisierung subsumieren. Die CDU-Spitzenkandidatin aus Rheinland-Pfalz, Julia Glöckner, sagte vor Kurzem im Radio, das Thema Verbindungsdatenspeicherung sei zu recht angegangen worden, um –jetzt kommt´s- „auch Hintermänner, Hinterfrauen ausfindig zu machen von solchen Netzwerken.“ Kersten, muss diese geschlechtergerechte Sprache wirklich so konsequent „durchgeboxt“ werden?
Unsere Sprache ist zum Glück dynamisch. Wie fremd kommt es uns heute vor, wie Menschen vor 100 Jahren deutsch geschrieben und gesprochen haben. Aber, wie die Rechtschreibreform bekämpft wurde, werden auch alle Bemühungen attackiert, das weibliche Geschlecht stärker zu berücksichtigen. Wer Gregor Gysi aufmerksam zuhört, wird heraushören, dass er immer von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Migrantinnen und Migranten spricht. Von Tucholsky stammt der Satz: „Sprache ist eine Waffe“. Und er fügte hinzu: „…, haltet sie scharf.“ Nichts anderes machen wir Frauenrechtlerinnen: Wir schärfen die Sprache. Wenn Frau Glöckner sich derer bedient, habe ich das nicht zu kritisieren oder lächerlich zu machen. Ich würde es mir von allen Personen des öffentlichen Lebens wünschen. Wie auch in unseren Publikationen, wie Anträgen, Reden, Pressetexten, Parteizeitungen. Ich finde, jede und jeder sollte reden und schreiben, wie ihm und ihr der Schnabel gewachsen ist. In Parteipapieren und Reden erwarte ich aber einen sensiblen, geschlechtergerechten, Umgang mit Sprache.
Kersten, 2016 hat begonnen, jetzt gilt die fixe Geschlechterquote von 30 Prozent für neu zu besetzende Aufsichtsratsposten in etwa 100 großen Unternehmen. Etwa 3500 weitere Unternehmen sind verpflichtet, sich eigene Zielgrößen zur Erhöhung des Frauenanteils in Aufsichtsräten, Vorständen und obersten Management-Ebenen zu setzen. Doch der Anteil weiblicher Top-Manager liegt noch immer weit unter den Vorgaben. Woran liegt das?
Das Gesetz hat nur ein „Quötchen“ eingeführt, wie das unsere frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Cornelia Möhring, einmal genannt hat. Die Regierungen haben doch nicht de Mumm, sich ernsthaft mit der so genannten freien Wirtschaft anzulegen, und ihnen Vorschriften zu machen. Im Gegenteil: Beschäftigtenrechte werden seit Jahren dereguliert und abgebaut. Von allem bleibt immer nur ein bisschen über: Zu geringer Mindestlohn mit vielen Ausnahmen, zahmen Frauenquoten in Aufsichtsräten und auch nur in DAX-Unternehmen. Auch das geplante Entgeltgleichstellungsgesetz wird so ein Ergebnis haben. Wenn nicht gleichzeitig das Betriebsverfassungsgesetz verbessert wird und der Unternehmens- und Arbeitnehmerbegriff neu definiert wird, bleibt wachsende Prekariat, dass von diesen Gesetzen nichts hat und die von ihrer gesellschaftlichen Bedeutung her weitgehend wirkungslos bleiben oder nur träge Wirkung zeigen. Selbst das Hamburger Gremienbesetzungsgesetz konnte nur umgesetzt werden, weil viele Frauen gleich mehrere Aufsichtsratsposten erhielt. Hamburgs Kultursenatorin Barbara Kisseler hat allein acht Aufsichtsratsmandate. Es wird also auch noch geschummelt.
Mag sein, dass die Regierungen nicht den Mumm haben, sich ernsthaft mit der so genannten freien Wirtschaft anzulegen, und ihnen Vorschriften zu machen. Einige Psychologinnen sprechen allerdings auch davon, dass man den momentanen Zustand nur ändern könne, wenn man die Männer mitnimmt. Wenn es um das Thema Frauenquote geht, fühlen sich die meisten Männer nicht angesprochen. Für sie ist das allein eine Sache der Frauen. Wenn Männer das Thema ernst nehmen sollen, muss man dann nicht an ihren Sinn für Gerechtigkeit appellieren? – Und was kann ein Unternehmen tun, um seine männlichen Mitarbeiter von den Vorteilen der Frauenquote zu überzeugen?
Das müsstest Du mir beweisen, dass sich viele Männer nicht angesprochen fühlen. Vor allem wenn sie Väter werden, haben Männer oft den Wunsch, weniger zu arbeiten und trotzdem ihre beruflichen Ziele zu verwirklichen. Fakt ist aber, dass Kinder auf die Berufswege von Frauen immer noch die größeren Auswirkungen haben als auf die der Männer und dass vor allem Männer Vorurteile gegen so genannte Karrierefrauen hegen – und das bei besseren Schulabschlüssen, die junge Frauen hinlegen! Männer müssen aber auch Macht abgeben, dazu müssen sie gegebenenfalls auch gezwungen werden, zum Beispiel durch Quoten. Ich wäre nicht in dieser Partei, wenn die allermeisten Genossen das nicht auch so sehen würden.
Es freut mich für dich, Kersten, dass du viele emanzipierte Männer kennst. Ich kenne allerdings sehr wohl Männer, die sich nicht angesprochen fühlen. In meiner Frage habe ich davon gesprochen, dass Männer mitgenommen werden müssen. Du forderst allerdings ggf. Zwangsmittel. Die verbindliche Frauenquotenreglung für die Besetzung der Aufsichtsräte gilt nach dem aktuellen Stand für rund 100 ganz große Unternehmen in Deutschland. Etwa 3500 weitere Unternehmen sind aber nur verpflichtet, sich eigene Zielgrößen zur Erhöhung des Frauenanteils in Aufsichtsräten, Vorständen und obersten Management-Ebenen zu setzen. Eine Mindestzielgröße ist nicht vorgesehen. Die Unternehmen können sie selbst setzen und an ihren Strukturen ausrichten. Noch einmal meine Frage: Was kann ein Unternehmen tun, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der die männlichen Mitarbeiter bzw. leitenden Angestellten die Frauenquote als gerecht empfinden?
Gleichstellung ist Führungsaufgabe und gehört daher als Zielsetzung im Job in jeden Arbeitsvertrag für Managerinnen und Manager. Eine Idealvorstellung unter derzeitigen Gesellschaftsbedingungen wäre zudem, die Belegschaft an den Gewinnen zu beteiligen und betriebliche Umstrukturierungen unter die volle Mitbestimmung des Betriebsrats zu stellen. Managerinnen und Manager sollten von der Belegschaft gewählt und abgewählt werden können. Außerdem benötigen wir dringend ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, das im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz verankert wird. Bis heute können die Gewerkschaften nicht klagen, wenn Diskriminierungen im Betrieb stattfinden. Die Bürgerschaftsfraktion hatte auf meine Initiative hin eine Bundesratsinitiative dazu eingebracht – die natürlich von der SPD versenkt wurde.
Kersten, steht auf der Liste der Linkspartei ein Mann auf Platz eins, müssen auf den Plätzen zwei und drei Frauen folgen. Der Frauenanteil im Hamburger Landesverband beträgt aber nur 37%. Tragen solche Ungerechtigkeiten nicht Missgunst und Frust in die Partei und vergiften das Klima? Und zudem leben wir doch in einer Leistungsgesellschaft, es zählt also Qualifikation und das Erreichte. Geschlecht ist aber doch keine Qualifikation, oder Kersten?
Wenn Geschlecht keine Qualifikation ist, frage ich, warum besetzen dann so viele Männer verantwortungsvolle Posten? „Leistungsgesellschaft“ ist ein Kampfbegriff. Ich will eine solidarische Gesellschaft und unterwerfe mein Handeln soweit wie möglich nicht dem Marktfetischismus. Das macht DIE LINKE zum Glück auch nicht. Tatsächlich haben Frauen schwerere Voraussetzungen, Vorstandsarbeit zu machen. Daher müssen sie spezifische Bedingungen erhalten, um genauso arbeiten zu können, wie Männer. Den Begriff „Frauenförderung“ verwendet heute zum Glück kaum jemand mehr, aber das war mal damit gemeint. Alles andere ist eine Vergeudung und Missachtung der Ressourcen der Hälfte der Menschheit. Daher ist diese Regel auch nicht ungerecht, sondern Statement wie auch Instrument, um Benachteiligung zu bekämpfen.
Ich spüre zudem kein vergiftetes Klima oder Missgunst in unserer Partei wegen dieser Regel. Wer die Quote nicht akzeptiert, muss in die CDU oder in die FDP eintreten. Die Quote ist solange nötig, bis sie niemand mehr darauf bestehen muss. Dass manchmal auch Frauen in Positionen kommen, die sich als unfähig erweisen, muss man einkalkulieren. Dann machen wir es wie bei den Männern auch: Wer sich nicht bewährt, kann auch wieder abgewählt werden. Oder um es ironisch zu sagen: Gleichberechtigt sind wir dann, wenn eine unfähige Frau einen verantwortungsvollen Posten bekleidet.
Interview: Sven Friedrich Wiese