Marlene

marleneMarlene. Eine autobiographische Erzählung.

„Du darfst absolut niemandem sagen, wo ich bin!“ Marlene fixiert Nadine mit ihrem Blick.

Ich nicke, auch wenn ich jetzt schon davor Angst habe, ihrer Mutter zu begegnen, und entziehe mich ihren Augen. Das zerdepperte Sparschwein liegt auf dem Boden. Ich hatte es ihr vor Jahren zum Geburtstag geschenkt. Marlene fischt zwischen der zerbrochenen Keramik Münzen und Scheine heraus.

„Mist“, schimpft sie. Sie hat sich geschnitten. Fluchend rennt sie ins Bad. Ich trenne die Scherben vorsichtig von dem Geld. Zwei Häufchen entstehen. Marlene hat eine Zeit lang Zwanzig-Cent-Stücke gesammelt, die blitzblank aus der Prägung kamen. Und neue Fünf-Euro-Scheine. Die einmal in der Mitte gefalteten Fünfer sehen immer noch aus wie Spielzeuggeld, das Hartgeld glitzert nicht mehr. Heute Abend wird der Schatz geopfert. Ob das Geld für eine Fahrkarte nach Münster reicht?

„Ich habe noch 50 Euro“, rufe ich durch die Wohnung, „du kannst sie haben. Wer weiß, ob du es gleich findest. Vielleicht musst du ein Taxi nehmen.“

„Nein, verdammte Scheiße“, höre ich Marlene schimpfen. Dass sie mein Geld nicht will, hätte sie mir auch anders sagen können. Ich laufe zu ihr. Blut ist auf den weißen Wuschelteppich getropft, der vor dem Waschbecken liegt. Ich wickel ein Pflaster aus und klebe es meiner Freundin um den Finger.

„Zu fest“, jammert sie. Ich lockere das Ganze.

„Danke“, presst sie hervor. Dann holt sie Gallseife aus der Küche und reibt den Fleck ein.
„Meine Mutter kommt gleich nach Hause“, sagt Marlene mit einem Blick auf die Uhr, die über der Badewanne hängt. „Ich sage ihr, dass ich eine Abendschicht bei McDonalds schiebe, ich hätte einen Anruf gekriegt.“

„Sie wird dich nicht vor 22 Uhr vermissen“, überlege ich laut.

„Wetten, dass sie sich noch heute Nacht vorstellen wird, dass ich vergewaltigt und erwürgt im Gebüsch liege?“, mutmaßt Marlene, „Sie wird die Polizei anrufen und verlangen, dass eine Hundertschaft die Umgebung durchkämmt. Sie wird ein Foto von mir heraussuchen, das sie der Zeitung geben kann.“ Sie öffnet ihren Kleiderschrank und zieht von der oberen Ablage eine Reisetasche hervor.
„Vermutlich wird sie dich schon bei ,Aktenzeichen XY ungelöst’ in der Fahndung sehen und sich vorstellen, was sie auf deiner Beerdigung anzieht und welcher Text in der Todesanzeige steht“, ergänze ich.

„,Du durftest nur 16 Jahre leben’, oder ,Der Herr hat meinen liebsten Schatz zu sich genommen’, was meinst du? Vielleicht wird sie auch die Wahrheit schreiben: ,Ich hätte sie lieber in ein Erziehungsheim gesteckt als in einen Sarg’“, orakelt Marlene, während sie einige Slips und eine Ersatzhose in die Tasche stopft.

„Sie wird sich die schlimmsten Sorgen ihres Lebens machen, da kannst du sicher sein“, sage ich und denke mit Grausen daran, wie es wäre, würde ihr wirklich etwas zustoßen.

Marlene weicht die Entschlossenheit aus dem Gesicht. Ihre Mundwinkel zucken. Sie schaut aus dem Fenster. Es dämmert. Den ganzen Tag über ist es nicht richtig hell geworden, verwaschene Wolken hängen schwer am Himmel. Die Straßenbahn fährt vorbei. Von hier oben aus dem achten Stock aus sieht sie klein aus. In eine der nächsten wird Marlene sitzen, Richtung Innenstadt. Zwei Vögel streiten sich in der Luft. Der eine lässt sich auf einer Laterne nieder. Für den anderen ist kein Platz zum Landen, er schwirrt flügelschlagend um den Fressfeind herum. Der rupft seelenruhig seine Beute häppchenweise aus den Krallen und hebt provokant das Schwanzgefieder auf und nieder. Marlenes Augen füllen sich mit Tränen.

„Sie hat es verdient!“, sagt sie trotzig. Und als wenn sie sich selbst ablenken will redet sie mit gesenkter Stimme weiter: „Deine 50 Euro sind nicht nötig. Ist Münster nicht so eine Popelstadt? Da sind die Wege doch nicht lang. Bestimmt gibt es auch Busse.“ Sie wischt sich ein Rinnsal von der rechten Wange. Wir zählen das Geld. Es sind 75,80. Ein Schlüssel dreht sich im Haustürschloss. Schnell schiebt Marlene die Sparschweinüberreste unter ihr Bett, stopft das Geld in ihre Hosentasche und ihre Querflöte – die sie sich von ihrem Konfirmationsgeld gekauft hat – in die Tasche.

„Na los, Jonny, du kommst mit“, sagt sie zu ihrem Stoffhasen, wuschelt ihn Nase an Nase und legt ihn behutsam dazu.

„Warum liegt deine Jacke auf dem Stuhl, haben wir keine Garderobe?“, schimpft die Mutter zur Begrüßung. Marlene dreht die Augen, steht auf, stellt die Reisetasche hinter ihre Tür. Sie gibt ihrer Mutter, die mit müdem Gesicht im Flur steht, einen flüchtigen Kuss und hängt die Jacke auf. Ich gehe Marlene hinterher. Die Mutter übersieht mich, geht in die Küche und stellt gut gefüllte Plastiktüten ab. Marlene und ich räumen den Inhalt in Kühlschrank und Vorratskammer.

Marlenes Mutter zieht ihre Schuhe aus und reibt ihre Füße. Wie kann ein Mensch nur den ganzen Tag auf Pumps herumlaufen? Heute trägt sie dazu einen gerüschten Rock bis zum Knie, eng geschnürt in der Taille. Ihre Bluse spannt um die Brust und ist einen Knopf zu weit geöffnet. Ein Spitzen-BH ist zu erkennen. Ihre rot gefärbten Haare sind wie immer hoch toupiert, der blaue Lidschatten geht bis zu den sorgfältig gezupften Brauen hoch. Ein rosaroter Lippenstift ziert den Mund, passender Nagellack die Finger. Sie sind zudem bis auf die Daumen mit Ringen beschwert.

Marlene trägt meistens Männerhemden, Sweatshirts, Wranglers und Boots. Als wir klein waren, war meine Freundin immer aus dem Ei gepellt. So teure Kinderkleidung trug sie, dass meine Mutter lästerte, was das für eine Geldverschwendung sei, weil Gören nach einem halben Jahr sowieso aus allem wieder herausgewachsen seien.

Marlenes Mutter ist im Schlafzimmer verschwunden. In einen fliederfarbenen Hausanzug gekleidet kommt sie wieder heraus. Sie geht in die Küche. Schranktüren klappern. Mit einem Weinglas in der Hand durchquert sie dann den Flur, geht in das Wohnzimmer und setzt sich vor den Fernseher. Der richtige Moment. Marlene tischt ihre Lüge auf.

„Mach nicht so einen Krach, wenn du nach Hause kommst.“ Mutter-Tochter-Kuss. Wir verlassen die Wohnung.

Teil 2

Die Uhr zeigt eine Minute vor drei. Dann schubst sich der große Zeiger auf die zwölf – und zittert noch etwas nach. Marlene sitzt auf einer Bank am Rande der Münsteraner Bahnhofshalle, neben dem Bäckerstand und schaut auf den gigantischen Zeitmesser mit seinen beiden ungleichen schwarzen Zeigern, der oben an der Wand hängt. Der Duft warmer Brötchen und süßen Gebäcks wabert durch die verglaste Wand, obwohl die Auslage des Tresens bis auf den letzten Krümel gesäubert und der Stand geschlossen ist. Hunger hat Marlene nicht, dazu ist sie viel zu aufgeregt. Sie kaut an ihrem Zeigefinger herum. Doch sein Nagel ist wie die der anderen Finger bereis komplett abgenagt.

Züge fahren jetzt keine. Die Gleise dösen vor sich hin, die Rolltreppen stehen still. Die knallbunten Werbetafeln erreichen mit ihren Kaufbotschaften um diese Uhrzeit nur wenige Konsumenten. Marlene wechselt den Blick auf den gelben Abfahrtplan direkt vor sich. Zum mindestens 95. Mal studiert sie ihn und stellt einen überwiegend logischen Rhythmus bei den Abfahrtzeiten und Zielen fest. Der erste Zug wird erst wieder um fünf nach fünf fahren. Ein Eilzug. Tagsüber fährt einmal in der Stunde ein ICE nach Bremen, immer um drei vor. „Ohne mich.“, sagt sie vor sich hin. Eine Rückfahrkarte hat sie nicht gekauft.

Die Angst, von der Polizei angesprochen zu werden, halten Marlenes Sinne im Alarmzustand. Was soll sie antworten, wenn einer der patroulierenden Beamten sie fragen würde, was sie hier treibe und wie alt sie sei? Sie ist nicht gut im Lügen. Außer wenn sie ihrer Mutter Märchen erzählt. Ein bisschen ist Marlene nun froh, dass sie aufgrund ihres Gewichts älter wirkt. Das behauptet zumindest immer ihre Oma. Zwei Farbige müssen den Bahnpolizisten ihre Ausweise vorzeigen. Ein Betrunkener wird unsanft vor das Gebäude gebracht, nachdem er vor dem Fahrkartenschalter gepinkelt hat. Marlene wird nicht beachtet.

Die Zugfahrt war problemlos verlaufen. Das Abteil hatte sie für sich alleine gehabt. Niemand hatte sie zugetextet oder mit Schnarchen genervt. Dennoch. Die Langeweile ließ den Zweifeln in ihrem Kopf genug Raum, um sich auszubreiten. Sie war ziemlich planlos aufgebrochen. Die meiste Zeit hatte sie während der Fahrt grübelnd in die schwarze Nacht hinaus geschaut, Jonny auf dem Schoß. Doch mehr als Straßenlampenlichter, Autoscheinwerfer und die Nachtbeleuchtung vorbeiziehender Orte hatte sie nicht erkennen können. Und ihr sich in der Fensterscheibe spiegelndes Gesicht. Sie sieht ihrer Mutter ähnlich. Alle sagten das. Die gleichen großen braunen Augen, das runde Gesicht, die vollen Lippen. Die Augenbrauen zupft Marlene wie ihre Mutter in Form. Nur dass bei Marlene zwei dünne Halbbögen über den Augen stehen, während bei ihrer Mutter die Brauen geschwungen am Ende beider Augen in einer schönen Spitze auslaufen. Sie haben sogar die gleichen Stimmen. Am Telefon war das nützlich – ein paar Mal schon hatte sie sich verleugnet: „Meine Tochter ist im Moment nicht da.“

Die blondierte Schaffnerin aus dem ersten Zug hatte beim Kontrollieren des Tickets nur einen kurzen Blick auf Marlene geworfen. Sie hatte einen langen Arbeitstag hinter sich. Ihr Make up war verlaufen, ein Halstuch mit einem albernen Pfadfinderknoten hing schief über der rechten Schulter. Mechanisch stempelte sie ab. Ab Osnabrück war niemand mehr vorbeigekommen, der Marlenes Absichten an ihrer Nasenspitze hätte erkennen können.

Als sie Münster erreichte, war es kurz vor eins. Normale Busse fuhren nicht mehr und das System der Nachtlinien durchschaute sie nicht. Sollte sie jemanden fragen? Marlene wollte sich nicht verdächtig machen. Der erste reguläre Bus nach Münster-Roxel fuhr kurz nach halb sechs vom Bahnhof ab. Jetzt hieß es aushalten – und unsichtbar bleiben.

Was ist das – Musik? Marlene schaut den Bahnhofstunnel entlang und sieht eine gebeugte Gestalt. Sie greift ihre Tasche, setzt sich in Bewegung und lässt sich am andere Ende der Bank nieder, auf der ein Musiker im Schneidersitz hockt. Er zupft und streicht die Saiten einer Gitarre. Ein sanfter Rhythmus ohne aufregende Sprünge. Als würden Tonleitern mit langsamen, kaum merklichen Abstufungen durch die Luft schweben. Die Klänge sind so unaufdringlich, dass niemand der Passanten einen Blick zu ihnen wirft. Marlene fühlt sich allein mit dem Gitarrenspieler, der weder zu den vorbeigehenden Menschen aufschaut, noch sie ansieht. Sie öffnet leise ihre Tasche und holt ihre Querflöte heraus. Als sie den Koffer aufklappt, in dem das Instrument ruht, blickt er kurz herüber und lächelt. Marlene steckt die Querflöte zusammen und führt sie an ihren Mund. Ein tiefes warmes C fließt durch den Tunnel. Marlenes Lieblingston. Weich und breit presst sie ihre Unterlippe auf das Mundstück und bläst konstant durch eine kleine Öffnung zwischen Zunge und Oberlippe. Ihre zehn Finger halten alle Klappen der Querflöte fest geschlossen. Nur die geringste Nachlässigkeit beim Drücken würde den Ton zerstören. Doch er gelingt perfekt und untermalt die Akkorde, die aus der Gitarre kommen.

Marlene wagt ein D. Dafür hebt sie den rechten kleinen Finger an. Eine Klappe öffnet sich. Der neue Ton schließt sich nahtlos an das C an. Marlene improvisiert nun eine Tonfolge. Die Melodien harmonieren prächtig. Die neue Musik füllt den Bahnhofstunnel, der sie in sein Gewölbe aufnimmt und gedämpft in die große Halle weiter trägt. Und als wenn ein Tarnumhang Marlene und den Gitarrenspieler verdecken würde, nimmt niemand Notiz von den beiden.

Als sie die Flöte wieder absetzt und auf die Uhr schaut, sind eineinhalb Stunden vergangen. Der Mann hat die Gitarre zur Seite gelegt und sich eine Zigarette gedreht. Er reicht Marlene den Tabakbeutel. Sie dreht sich ebenfalls einen Stängel. Schweigend rauchen sie. Dann zieht der Mann ein Päckchen aus seinem Beutel, und wickelt zwei Hähnchenkeulen aus. Er bietet Marlene eine an. Sie greift wieder zu. Immer noch wortlos, essen sie das kalte Fleisch und nagen die Knochen ab. Dann packt der Gitarrenspieler sein Instrument in eine große Stofftasche, steht auf, schultert sie und tritt auf Marlene zu. Er streichelt ihr die Wange, lächelt ein zweites Mal, dreht sich um und geht den Tunnel entlang durch die Bahnhofshalle hinaus ins Freie.

Die Fahrt nach Roxel kostet zweisiebzig. Marlene traut sich nicht, die Busfahrerin zu fragen, ob es einen Schülertarif gibt. Die Schule fängt wohl auch in Münster nicht so früh an, dass jetzt schon Jugendliche unterwegs sein würden.

20 Minuten dauert die Fahrt. Ob sie lange suchen muss, bis sie ihr Ziel findet? Es ist still in dem Viertel. Niemand ist zu sehen, kein Auto fährt. Da sieht sie die Straße, deren Namen sie abgeschrieben hatte, und jetzt ein großes Haus – das muss es sein! Die Hausnummer stimmt.

Vor den Fenstern aller drei Etagen sind die Rollläden heruntergelassen, es wirkt verlassen.

„Verdammt, sie ist im Urlaub, bestimmt mal wieder auf Mallorca“, sagt Marlene halblaut. „Ich bekloppte Idiotin, warum habe ich das vorher nicht gescheckt?“

Marlene kämpft mit den Tränen und ballt die Fäuste. „Scheiße!“, sagt sie laut und stampft mit einen halben Umdrehung den rechten Fuß auf. „Aua, Mist!“ Sie ist direkt auf der Kante des Bürgersteiges aufgekommen und abgerutscht. Durch den Knöchel fährt ein grausamer Schmerz. Marlene geht in die Hocke und wimmert. Doch wie hätte sie vorher prüfen sollen, ob ihr Asyl sie überhaupt aufnehmen können würde? Anrufen und sagen, dass sie vorhabe, abzuhauen und Tante Inge bitte, bitte vorher ihrer Mutter nichts verraten möge? Oder nur mal so Hallo sagen, fragen, wie es ihnen ginge und welchen Urlaub sie in den nächsten ein-, zwei Wochen planen würden? Alles Quatschkram.

Marlene erhebt sie sich und humpelt auf das Haus zu, drückt die Klinke der kleinen Gartenpforte. Sie öffnet sich quietschend.

Das Haus ist hermetisch verschlossen, selbst die Türen wirken wie einbrechersicher gepanzert. Aber ein Wagen steht vor der Garage. Marlene geht ziellos um das Haus herum. Der Knöchel schmerzt noch immer. Am Klingelschild liest sie den Namen. Zwei Paar dreckiger Gummistiefel stehen vor dem Eingang – bestimmt von den Jungs, denkt Marlene. Auf Florian und Roman hatte sie einmal die Woche aufgepasst, als die Familie noch in Bremen wohnte. Zehn Euro hatte sie dafür immer bekommen – genug für die Disco am Freitagabend. Da hatte sie noch nicht bei McDonalds gearbeitet.

„Fahren weg und lassen die Gummistiefel stehen, so was“, sagt Marlene. Der Garten ist gigantisch. Ein Fußballtor steht am Ende des Grundstücks, bestimmt 50 Meter von der Terrasse entfernt. In einem üppig bepflanzten Blumenbeet ranken uralte Rosenstöcke. Das Grün des Rasens leuchtet satt und feucht vom Morgentau. Zwischen den Halmen stehen Gänseblümchen und Löwenzahn mit noch geschlossenen Köpfchen.

Marlene ist ratlos. Was soll sie tun – aufgeben und zurückfahren? Zur Polizei gehen und eine spektakuläre Entführungsgeschichte erzählen? Sie sieht schon ihre Mutter, wie sie einen bösen Blick macht und sie mit Vorwürfen übergießt.

Bist du völlig plemmplemm?, Hast du sie noch alle?, Ich glaube, ich spinne, was bildest du dir eigentlich ein?, Ich sorge dafür, dass du satt bist und was Vernünftiges zum Anziehen hast und das ist der Dank dafür? Marlene kannte alle Monologe, die ihre Mutter immer wieder abspulte. Freundlich und verständnisvoll war sie lediglich gegenüber anderen Kindern. Marlene fühlte sich immer wie abgestellt, wenn ihre Mutter den Nachwuchs ihrer Bekannten mit Aufmerksamkeiten überschüttete. Warum macht sie das nie mit mir?, hatte sie sich oft gefragt. Jetzt wird ihre Mutter feststellen, wie wichtig ihr Marlene gewesen war – weil das junge Leben ihrer Tochter durch einen perversen Triebtäter beendet wurde.

Und nun war der schöne Plan zerbröselt – nur weil Marlene nicht daran gedacht hatte, dass die Familie auch weg sein könnte. Sie dreht noch eine Runde um das abweisende Haus. Auch danach kommt ihr keine sinnige Idee. Sie holt Jonny aus der Tasche und sagt zu ihm:

„Wir setzten uns vor die Tür und warten auf einen Einfall.“ Der Hase schweigt zustimmend. Sie hockt sich auf die steinernde Schwelle und blickt auf einen blattlosen Baumwipfel, in dem sie leere Nester erkennt. Das wäre schön, denkt sie, wie ein Vogel immer das Zuhause wählen zu können, wo es einem am besten geht. Eine Krähe krächzt höhnisch aus unbestimmter Richtung.

Marlene hört ein Geräusch. An der Terrasse schiebt sich gemächlich ruckelnd ein Rollladen hoch. Sie schaut auf die langsam erscheinende Fensterfront. Dann entdeckt sie ein vertrautes Gesicht. Die Tür geht auf.

„Was machst du denn hier?“, ruft ihr eine sehr verschlafen aussehende Gestalt entgegen.

Teil 3

Tante Inge ist eine auffällige Frau: Groß, schlank, blond, sehr gepflegt, nur leicht geschminkt. Die Frau, die Marlene nun entgegenblickt, wirkt unscheinbar. Ihr Haar liegt glatt zu einem Dutt nach hinten gesteckt am Kopf. Aber sie erkennt sie an ihren hellblauen Augen. Marlene humpelt ihr entgegen, Tante Inge nimmt sie in die Arme. Marlene riecht Schlaf und einen dezenten Cremeduft.

„Hey, Marlenchen, bist du ausgebüxt?“, fragt Tante Inge. Marlene nickt. „Die Nachbarin hat eben angerufen, sie hat jemanden ums Haus schleichen sehen. Warum hast du nicht geklingelt?“ – Komm erst mal rein“, sagt sie, „die Jungs stehen gleich auf, die werden Augen machen.“ Marlene folgt ihr in die Küche.

„Hast du Hunger? Möchtest du Tee oder lieber Kakao?“ Marlene nickt noch einmal und entscheidet sich für Kakao. Sie fühlt ein Loch in ihrem Magen und Trockenheit im Hals. Tante Inge ist am Eingießen, Umrühren, Brote schmieren. Aus dem Radio kommen Nachrichten. Marlene horcht, als wenn sie auf ihre Vermisstenmeldung wartet.

Florian sieht Marlene zuerst. Er rennt auf sie zu und greift nach ihrem Hasen.

„Wie heißt der? Ist das deiner? Kann ich ihn haben?“ Jonny duldet die grobe Behandlung. Roman kommt sich den Schlaf aus den Augen reibend in die Küche und nimmt Marlene mit einer Selbstverständlichkeit zur Kenntnis, als würde sie jeden Morgen an diesem Tisch sitzen. Die Jungen essen ein Zuckerei. Tante Inge schlägt dafür je ein rohes Ei in ein Glas und gibt zwei Löffel Zucker hinzu. Die Jungen verrühren die Mischung und schlürfen es in Windeseile mit einem Löffel. Marlene rümpft die Nase. Sie erinnert sich an diese geschmacklich-merkwürdige Vorliebe.

Eine dreiviertel Stunde später sind die Jungs fertig angezogen, ihre Ranzen stehen bereit. Draußen hupt es. Die beiden lassen die Haustür hinter sich ins Schloss krachen. Tante Inge schaut durchs Fenster, bis der Schulbus Gas gibt.

„So“, sagt sie, dreht sich um, und setzt sich zu Marlene an den Tisch. Sie zündet sich eine Zigarette an. Marlenes Blick auf die Schachtel ignoriert sie.

„Erzähl.“

Sie hört ruhig zu, während Marlene berichte und legt die Hand auf ihre. Marlene spürt etwas Dickes in ihrem Hals. Tränen nässen ihre Augen. Sie würde gern in den Arm genommen werden.

„Und nun?“, fragt sie. Marlene schaut auf den Fußboden. Weiter als bis zu diesem Moment hat sie nicht gedacht.

„Es war wohl doch eine Scheißidee, abzuhauen.“, gibt sie zu und erwartet eine saftige Standpauke. Natürlich, denkt Marlene, wird die beste Freundin ihrer Mutter nicht auf ihrer Seite sein. Sie wird, geht es ihr panisch durch den Kopf, sie wieder fortschicken und den Jungs einbläuen, dass sie so etwas niemals tun dürfen. Vielleicht fängt sie sich sogar eine Ohrfeige ein. Ich hätte es verdient, sagt sie zu sich, ich bin wirklich so eine schlimme Tochter, wie Mama sagt. Wer kann mich schon aushalten? Über Marlenes Wangen wandern zwei dünne Wasserbahnen abwärts.

„Was sagt denn dein Vater zu Heides Drohung, glaubst du, er würde zustimmen?“

„Mama hat das Sorgerecht, er hat doch gar nichts zu sagen“, antwortet Marlene. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, ihren Vater um Hilfe zu bitten.

Marlenes Lider senken sich, sie kann die Augen kaum offen halten. Eine unnachgiebige Schwere drückt von oben nach unten durch sie durch.

„Du schläfst jetzt erst einmal und dann denken wir beide darüber nach, was wir tun.“ Sie schiebt Marlene in ein Jungenzimmer, Romans Reich. Rennwagenposter hängen an der Wand, Legomutationen stehen auf dem Fensterbrett und ein Teppich, der den Grundriss eines Verkehrsübungsplatzes abbildet, liegt auf dem Boden. Marlene holt ihre Flöte aus ihrem Koffer, steckt sie zusammen und lehnt sie hochkant an einen Stuhl, damit die Nässe der Atemluft herauslaufen und das Instrument trocknen kann.

„Die sieht ja beeindruckend aus. Machst du noch im Spielmannszug mit?“, fragt Tante Inge.

„Ich bin zu den Bläsern gewechselt“, sage Marlene und denkt daran, dass ihre Mutter ihre Flöterei scheußlich findet und sie sich in ihrer Gegenwart nicht zu üben traut. Sie fällt, ohne sich auszuziehen, in Romans Bett. Sie sinkt in sich zusammen und verschwindet von dieser Erde. „Und die Tante lässt du künftig besser mal weg“, hört sie noch.

Kinderstimmen holen Marlene in die Welt der Wachen zurück. Erst ist sie orientierungslos, dann begreift sie, dass sie in Münster ist. Ob ihre Mutter schon eine Vermisstenanzeigen erstattet hat? Ob sie heulend mit ihrem Auto durch das Viertel fährt? Ob sie Nadine schon einem Verhör unterzogen hat? Wie soll sie ihrer Mutter jemals wieder unter die Augen treten? Ein schlechtes Gewissen breitet sich in Marlenes Kopf aus.

Sie spürt Durst, steht auf, tappt langsam durch den Flur. Ihr Knöchel schmerzt wieder. Roman saust ihr auf Rollschuhen entgegen.

„Platz daaaaaaaaaaaaaaaa!“, schreit er. Marlene weicht an die Wand.

„Wo ist euer Badezimmer?“, ruft sie ihm hinterher. Roman streckt den Zeigefinger. Der Richtung folgend findet Marlene ihr Ziel und hängt sich unter den Wasserhahn. Gurgelnd schluckt sie, bis ihr der Bauch weh tut. Als sie aufsieht, steht Florian hinter ihr.

„Davon kriegt man Flöhe innen Bauch, Flöhe, Flöhe, Flöööhe“ singt er. Marlene grinst. Dann müsste sie einen Planeten der Viecher in sich haben.

„Du musst da erstmal ankommen“, gibt sie zurück. Florian zieht unter dem Waschbecken einen hölzernen, rotlackierten Hocker hervor, klettert hinauf und dreht den Hahn auf. Es spritzt. Marlene nimmt Florian auf den Arm, stoppt den Sturzbach und trägt den zappelnden Jungen in die Küche.

„Einen Sack voller Flöhe hüten ist nichts gegen dich“, sagt sie und setzt ihn auf der Bank ab. Tante Inge kommt in die Küche.

„So, nun aber raus mit dir in den Garten, hopp!“, sagt sie. Florian springt von der Bank und rennt singend „Flöhe im Sack, kack-kack-kack“ hinaus. Roman rollt klackernd hinter ihm her.

„Schön, dass du geschlafen hast. Wir sollten Heide anrufen, findest du nicht?“, fragt Inge.

„Ruf du sie an, ich traue mich nicht.“, sagt Marlene und schaut auf die Küchenuhr. Zwei Uhr mittags.

„Ich möchte eigentlich nie wieder mit ihr reden.“

Und während Tante Inge die Telefonnummer tippt, fängt etwas in Marlenes Hals an zu flattern. Das Gefühl geht in ein heftiges Pochen über.

„Heide? Hier ist Inge. – Ja, ich weiß, dass sie weg ist. – Heide, beruhige dich. – Ja, ich glaube es dir. – Heide, – Heide, – hör mir mal eben zu. – Ja. – Heide? Marlene ist hier, hier bei mir in Münster.“

Teil 4

Als Tante Inge den Hörer auflegt, sieht sie Marlene nicht an. Sie zündet sich eine Zigarette an, zieht, inhaliert und stößt den Rauch mit einem Seufzer aus. Marlene hatte nur Wortfetzen verstanden, dazu Tante Inges Bemerkungen. Dass ihre Mutter am Weinen war, hatte sie mitbekommen. Dann aber verlief das Gespräch sachlich. Inge hatte ihr vorgeschlagen, nach Münster zu kommen, und zu dritt zu reden.

Tante Inge drückt die Zigarette aus, steht ohne ein Wort auf, geht zum Wohnzimmerschrank, klappt eine Lade herunter. Marlene sieht eine verspiegelte Bar. Unzählige Spirituosen und Gläser in verschiedensten Formen und Größen stehen darin. Tante Inge gießt ein dunkles Getränk in einen geschwungenen Kelch mit langem Stiel und kippt es hinunter.

„Willst du wissen, was sie gesagt hat?“, fragt sie.

„Jedes Detail.“, antwortet Marlene.

„Du bist kein Kind mehr“, sagt Inge, „und da du das Ganze ja ausgelöst hast, wirst du mit Heides Reaktion sowieso zurecht kommen müssen.“ Sie geht zum Fenster und schließt es. Die Geräuschkulisse, die die Jungen im Garten produzieren, ist gedämmt. Dann setzt sie sich wieder zu Marlene, zündet sich erneut eine Zigarette an. Sie bietet Marlene eine an. Der Rauch schmeckt parfümiert und kratzt im Hals.

„Heide will nicht herkommen, weil sie fürchterlich aussieht, hat sie gesagt. Sie hat kaum geschlafen, ihre Haare sind nicht gemacht. Sie ist richtig böse auf dich. Du sollst sofort nach Hause kommen.“

Marlene schaut aus dem Fenster. Die blöde Kuh, denkt sie, nur weil ihre doofe Frisur nicht sitzt, will sie sich nicht kommen um ihre wieder auferstandene Tochter in die Arme zu schließen. Typisch Mama. Sie greift in ihre Tasche und zieht ein Foto aus ihrem Portmonee heraus.

„Schau mal, was ich Mama aus ihrer Brieftasche geklaut habe.“ Das Bild zeigt Marlenes Mutter in jungen Jahren, wie sie in einem weißen Porsche Cabrio sitzt. Über ihr hochtoupiertes Haar trägt sie ein schützendes Kopfttuch, auf der Nase eine mondäne Sonnenbrille. Sie schaut selbstbewusst Richtung Kamera.

„Das ist mein Wagen“, sagt Tante Inge.

„Ich weiß“, antwortet Marlene. „Sie hat das Foto immer bei ihrem Führerschein. Als ich klein war, wollte ich Mama immer so ein Auto schenken. Ich glaube, es ist ihr größter Traum, so zu sein wie du. Auch so reich.“

„Ach Kind, als wenn Geld alles wäre“, sagt Tante Inge. „Meine ersten beiden Männer waren nur dahinter her. Heide ist meine beste Freundin, das weißt du, sie war nie neidisch. Sie hat mir vieles anvertraut, sie hatte ja sonst niemanden, der ihr zugehört hat. Sie war lange Zeit mit deinem Vater sehr glücklich. Aber irgendwann fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen – auch weil er sich nie gegenüber seiner Mutter stark für sie gemacht hat.“

Marlene erinnert sich an hässliche Szenen, die Oma ihrer Mutter gemacht hatte. Wie ein kleines Kind hatte sie sie manchmal abgekanzelt. So ging Oma mit allen um. Man sagte im Ort sogar, dass sie Schuld am Tod von ihrem Opa gewesen wäre, weil sie, anstatt ihm den Haushalt zu führen, den ganzen Tag im Geschäft verbrachte und abends Rechnungen schrieb. So musste ihr Opa, wohl oder übel, in die Kneipe – wo er sich zu Tode soff. Marlene fand, dass er selbst Schuld war. Auch war ihre Mutter Schuld an der Trennung von ihrem Papa. Wenn es Streit bei ihnen zu Hause gegeben hatte, war ihre Mutter auch immer betrunken gewesen.

„Was soll ich jetzt machen?“ Mit einem hilflosen Blick schaut sie Tante Inge an.

„Du solltest zurück fahren. Und mit Heide reden. Versuch es wenigstens. Sie liebt dich.“

„Mama ist nicht glücklicher geworden in den zwei Jahren, seit denen wir ausgezogen sind“, sagt Marlene. „Auch trinkt sie noch.“ Marlene überkommt das Gefühl, ihre Mutter zu verraten. Deswegen beißt sie sich auf die Lippen, bevor sie den Gedanken ausspricht, dass ihre Mutter des Öfteren ein Blackout hat, Stunden, von denen sie nicht weiß, was passiert ist. Marlene muss ihr dann immer berichten, wann die Gäste gegangen sind, wie und wann sie ins Bett gekommen ist und ob Marlene sie noch ausgezogen hat oder sie sich selbst.

Auf der Autofahrt zum Münsteraner Bahnhof schweigen Tante Inge und Marlene. Tante Inges neuer Mann war von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt und passte auf seine Stiefsöhne auf. Tante Inge zahlt das Ticket für die Rückfahrt und nimmt Marlene am Bahnsteig in den Arm.

„Ich komme euch bald besuchen“, verspricht sie. Marlene nickt.

Das Abteil hat Marlene diesmal nicht für sich. Wie viele Menschen aber auch um sie herum sein mögen, sie fühlt sich allein auf der Welt. Was nutzen Eltern und Freundinnen, wenn man in das Leben, in das man hineingeboren wurde, nicht hinein passt? Sie findet sich fehl am Platz. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, denkt sie, der liebe Gott hätte sie in einem anderen Jahrhundert auf die Welt kommen lassen. Als Tochter eines Ritters zum Beispiel. Dann wäre sie ein nobles Burgfräulein und hätte Zofen, die sie umsorgten. Vater und Mutter würden sich aufopfernd darum kümmern, dass sie wohlbehalten heranwachse. Sie würden die nachbarschaftlichen Ritterfamilien mit ihren Söhnen einladen, damit sich Marlene einen Bräutigam aussuchen könne. Sie hätte ein großes Zimmer, das schon morgens vor dem Aufstehen von einem Diener beheizt würde. Und sie hätte jede Menge Brüder und Schwestern, mit denen sie im Burggarten spielen würde. Ihr musikalisches Talent würde von allen bewundert, von ihren Eltern gefördert und es würde Musikabende geben, an denen sie vor einem großen Publikum Beethovens Menuette vortrug – begleitet von Klarinette, Klavier und Cello.

Osnabrück. Umsteigen. Marlene wird aus ihren Phantasien gerissen und beeilt sich, aus dem Zug zu kommen. Auf der Fahrt nach Bremen zieht sie ihren Timer aus der Tasche und reißt ein Blatt Papier heraus.

„Könnten Sie mir ihren Kugelschreiber leihen?“, fragt sie den neben ihr sitzenden Herren, der beim Kreuzworträtsellösen eingedöst war.

„Hä? Was? Oh, ich bin eingeschlafen. – Ja, sicher, junge Dame.“, sagt er . „Wird das ein Liebesbrief?“

„Ja.“

Der Herr lächelt gutmütig, reicht ihr den Schreiber und nickt wieder weg. Marlene findet sich vorwitzig. Die kleine Lüge gibt dem Mann jetzt das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Bestimmt erzählt er heute Abend seiner Frau von dem pummeligen Mädchen im Zug. Vielleicht erinnern sie sich dann an ihre erste Zeit, in der sie sich schwulstige Briefe geschrieben hatten, mit den komischsten Kosenamen, Hasischnutzilein oder Mauzebärchen. Und dann würden sie, nach 30 Jahren Ehe, Händchenhaltend zusammen ins Bett gehen und aneinander gekuschelt einschlafen. Marlene findet, sie sollte Drehbuchautorin für Kitschfilme werden.

Marlene schreibt einen Brief an ihre Mutter. Den wird sie ihr auf den Nachtisch legen oder einfach so übergeben, wenn sie zurück ist, weil sie sowieso weiß, dass sie kein Wort herausbringt, ohne anzufangen, zu heulen. Oder ihre Mutter wird weinen und in Selbstmitleid versinken. Es soll ein Brief werden, der ein Angebot sein soll. Vielleicht, denkt Marlene, wird ihre Mutter sie dann besser verstehen. Und eigentlich sind sie doch ein Team, Marlene quasi ihr Klon, sie könnten Freundinnen sein, wie sie das bei Klassenkameradinnen und deren Müttern erlebt. Marlene schreibt und schreibt. Vertrauen schafft Verantwortung, hat sie mal irgendwo gelesen. Das schreibt sie nicht. Ihre Mutter mag solche klugen Worte nicht. Dabei hat Marlene oft gute Gedanken, findet sie selbst. Vieles, was sie denkt, würde sie gern mit ihrer Mutter besprechen. Aber sie ist meistens müde oder arbeitet oder feiert mit Bekannten. Vielleicht wird ihre Mutter sie künftig mehr beachten und sie bedeutsamer finden, wenn sie merkt, dass Marlene ihr Vertrauen schenkt. Dann könnten sie reden, über Marlenes wirklichen Probleme. Marlene hat Fragen, die sie nicht zu stellen traut. Sie hat niemanden, der ihr hilft, mit dem Leben zurecht zu kommen. Nadine hört zwar gut zu, kann ihr aber auf vieles keine Antworten geben. Ihre ältere Schwester lebt in einer anderen Welt und findet sich und alles um sie herum abscheulich, vor allem Marlene. Ihre Lehrer sind soweit okay, aber sie vertraut ihnen nicht. Ihren Vater hat sie sehr lieb, aber sie hat immer noch ein schlechtes Gewissen, weil sie von ihm weggezogen ist. Dabei hatte ihre Mutter ihr keine Wahl gelassen. „Du kommst doch wohl mit mir mit?“, hatte sie damals nur kurz gesagt. Auch ihr Vater hat selten Zeit. Er arbeitet, macht Sport und schläft, das ist sein Leben, denkt Marlene.

Als sich Marlene den Brief noch einmal durchliest, weiß sie, dass ihre Mutter nicht verstehen wird, was sie ihr sagen will. Ihre leicht nach links geneigte Schrift hat Geheimnisse und Träume aneinandergereiht. Ihre rechte Hand hat sich so verselbstständigt, dass Marlene erstaunt ist, was dort alles steht.

Sie hat versagt, offenbart sie: Sie wird die zehnte Klasse wahrscheinlich zum zweiten Mal nicht schaffen, weil sie über die Hälfte des Unterrichts schwänzt. Sie hat sich in Gefahr begeben, als sie mit Nadine eine ganze Nacht lang im Steintorviertel herumgelungert hat und Mercedessterne von falsch parkenden Bonzenwagen abgebrochen hatte. Sie möchte berühmt werden, indem sie Musik studiert und wünscht sich deswegen ein Klavier. Sie träumt von einem festen Freund, und hat, um endlich reif dafür zu sein, sich von einem Typ entjungfern lassen, den sie eigentlich eklig fand. Sie hat Angst, keinen Freund zu kriegen, weil sie dick ist und erbricht immer öfter Gegessenes ins Clo. Und sie kifft, weil sie das besser findett, als betrunken zu sein. Das wäre allerdings ein Grund, ihrer Mutter den Brief nicht zu geben, denn das soll sie auch künftig nicht wissen. Marlene kritzelt über die letzten Zeilen hinweg bis sie unleserlich sind. Sie schreibt unter den Brief „Ich liebe dich“ und „Deine Tochter“. Der Zug fährt in Bremen ein.

Die Ladentür stößt an die Glöckchen, die Marlenes Mutter an der Decke aufgehängt hat, damit sie hört, wenn jemand das kleine Geschäft betritt, wenn sie im hinteren Raum ist. Ihre Mutter steht an der Kasse und bedient zwei Jugendliche, die sich Süßigkeiten aus den Plastikeimern aussuchen. Marlenes Mutter hält gelangweilt eine Tüte in der Hand und fischt mit einer Klemme nach Gummitieren und Lakritzschnecken. Ihre Haare sind wie immer hochgesteckt, ihr Gesicht ist geschminkt. Ihr weißer Kittel bedeckt ihr Kleid.

„Zwei Euro fünfzig“, sagt sie unfreundlich und hält die Hand auf. Die Jugendlichen zahlen brav, greifen die Tüte und verlassen, ohne Marlene anzusehen, den Laden.

„Aha, da bist du also wieder. Hat es dir Spaß gebracht, mir das anzutun?“ Marlene schweigt. „Wenn du glaubst, du erreichst damit irgendwas, hast du dich geirrt. Wäre ja noch schöner, wenn ich mir von dir auf der Nase herumtanzen lasse. Für wen schuffte ich eigentlich? Wenn dein Vater mehr für dich bezahlen würde, müsste ich das nicht. Wir sehen uns heute Abend.“

Marlenes Mutter wartet keine Antwort ab: Sie dreht sich um und geht mit rauschendem Rock und klackernden Schuhen in den hinteren Raum des Ladens. Marlene bleibt allein. Die Glöckchen bimmeln wieder, als Marlene die Tür aufmacht und auf den Bürgersteig tritt. Sie steigt in den nächsten Bus und fährt zu Nadine.

„Du kannst heute bei mir schlafen, wenn du möchtest.“ Ich bin erleichtert, dass meine Marlene wieder da ist. Wir sitzen in meinem Zimmer und rauchen bei weit geöffnetem Fenster. Sie zeigt mir den Brief.

Ich kriege einen Riesenschreck: „Bitte gib ihr den nicht. Was darin steht, erzählt sie sofort meine Mutter und dann kriege ich den Ärger meines Lebens. Sie hat mir sowieso nicht geglaubt, dass ich nicht weiß, wo du bist. Versprich es!“, flehe ich sie an. Marlene nickt.

„Ich ziehe aus, sobald ich kann“, sagt Marlene. „Ich ziehe zu Oma. Seit Uroma tot ist, hat sie ein Zimmer frei.“

„Deine Mutter wird nicht erlauben, dass du bei dem Drachen wohnst“, sage ich, „sie ist ihre größte Feindin.“

„Um so besser“, erwidert Marlene, „wie will sie es mir denn verbieten? Ich werde immerhin bald 17. Ich schlafe heute besser nicht bei dir. Ich tue so, als ob alles wieder beim Alten ist. Ist es ja auch.“ Ich umarme Marlene, spüre ihre heißen Tränen an meinem Hals. Ich drücke sie fest an mich. Sie ist meine beste Freundin. Ich werde sie nie verlassen.

porsche

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Marlene ist einige Monate nach ihrem 17. Geburtstag zu ihrer Großmutter gezogen. Sie schenkte Marlene ein Klavier. Richtigen Unterricht nahm Marlene aber nie.

Mit 18 Jahren begann Marlene eine kaufmännische Ausbildung und zog in eine andere Stadt. Zwei Jahre später lernte sie ihren heutigen Mann kennen. Sie haben zwei Kinder.

Marlene machte eine Therapie gegen ihre Bulimie. Ihre Querflöte verwahrt sie in einer Schublade. Sie hört ab und zu Flötenkonzerte.

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Ein Gedanke zu „Marlene“

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