Der Ort, wo niemand fragt – Sozialarbeiterinnen bieten Hilfe

Madlen (l.) und Sonja vom Parati-Team beraten in Hamburg seit vielen Jahren Straßenprostituierte. Die lang gewachsenen Beziehungen ermöglichen eine Vertrauensbasis.

Veröffentlicht am 6. Januar 2017 in Neues Deutschland

Illegal, verarmt, auf Sexarbeit angewiesen: Für Straßenprostituierte können sich die Lebensbedingungen bald weiter verschlechtertn

„Lass nicht mit Dir handeln: Deine Arbeit hat ihren Preis – und den ist sie auch wert. Zu billige Angebote machen die Preise für alle kaputt.“ Ratschläge wie diese geben Sonja und Madlen oft an die Frauen weiter, die an ihren Bus kommen. Sie geben ihnen Gleitgel und Kondome, manchmal tauschen sie benutztes Spritzbesteck. „Wir kommen immer zum Schichtwechsel.“, sagt Madlen. „wenn die Tagsüberfrauen und die Nachtarbeiterinnen die Plätze wechseln.“ 20 bis 40 Frauen erreichen Sonja und Madlen montags zwischen 18 und 21 Uhr. Sie sind Sozialarbeiterinnen, ihre Klientinnen Straßenprostituierte.

Kondome für jeden Zweck werden von den Parati-Frauen an Straßenprostituierte ausgegeben.

Seit sechs Jahren steht der blaue Transporter mit den getönten Scheiben immer zur selben Zeit, am selben Tag am Steindamm im Hamburger Stadtteil St. Georg direkt am Hauptbahnhof. „Parati“ (spanisch: für dich) heißt das Straßensozialprojekt mit insgesamt sieben multiprofessionellen und -kulturellen Mitarbeiterinnen: fünf Muttersprachlerinnen, acht Sprachen. Krankenschwestern, Sozialpädagoginnen. „Manche Frauen wollen nur einen Kaffee trinken. Andere haben Schmerzen oder benötigen eine Impfung.“, sagt Madlen. „Wir führen auch Ausstiegsgespräche.“, sagt Sonja. Fragen dazu kämen vornehmlich von älteren Prostituierten. Sonja und Madlen stellen immer wieder fest, wie schlecht die Frauen informiert sind, wie wenig sie selbst über Schwangerschaft und Verhütung wissen. Finanziert wird das mobile Angebot vom „Mac Aids Fund“. Er gehört zum US-amerikanischen Kosmetikkonzern Estée Lauder. 67.500 Euro fließen pro Jahr nach Hamburg.

Täglich Ablehnung und Feindseligkeiten

Straßenprostituierte erfahren selten eine derartige Fürsorge und Aufmerksamkeit. Die Ordnungshüter verfolgen sie, die Stadtplanung möchte sie verdrängen. Die meisten sind hoch verschuldet, haben keine Melde- und Postadresse. Osteuropäerinnen und Afrikanerinnen sind in der Regel bewusst für diese Arbeit nach Deutschland gekommen. Sie fühlen sich nicht als Opfer, sondern als Familienernährerinnen – und sind stolz darauf, eigenes Geld zu verdienen. „Viele sind stolz darauf, dass sie mit ihrem Einkommen ihre Kinder in Bulgarien, Rumänien, Spanien oder Ghana weiter zur Schule schicken können. Deswegen wollen die meisten auch weiter in der Sexarbeit tätig sein.“, sagt Sonja, Daher nutzen Verbote und Verordnungen nicht viel – Bußgelder und ständiger Angst vor der Polizei zum Trotz. Was an Strafen gezahlt werden muss, erfordert eine noch höhere Präsenz an der Straße. Nicht selten werden Doppelschichten gefahren, die nicht ohne Drogenkonsum ausgehalten werden können. Sie haben ständig Angst vor Feindseligkeiten und Ablehnung.

Katarzyna* ist heute das erste Mal in den Bus gestiegen. Bislang habe sie sich geschämt, mit den Parati-Frauen zu sprechen, offenbart die mollige, blonde Frau mit polnischen Akzent, die etwa Mitte Dreißig ist. Aber jetzt benötige sie dringend Hilfe. Sie erzählt, sie habe sich mit Hepatitis C infiziert, sei oft müde, erschöpft. Das Arbeiten falle ihr schwer. „Jeden Tag bin ich am Steindamm, immer an der selben Stelle“, und zeigt auf einen Poller, der den Fußgängerbereich von einem Parkplatz abgrenzt. „ Dreizehn Jahre lang hatte ich keinen Kontakt zu meiner Familie. Erst wieder seit kurzem, seit mich ein Freund meines Bruders hier gefunden hat.“ Es sei nicht leicht, die Eltern, die auch in Hamburg leben, nach so langer Zeit wieder zu treffen. Sie wirkt erleichtert, ihre Geschichte erzählen zu können.

Mitte nächsten Jahres soll das jüngst von der Großen Koalition beschlossene Prostituiertenschutzgesetz in Kraft treten. Ministerin Manuela Schwesig will damit menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Sexarbeiterinnen schaffen: Registrierung und Gesundheitsberatungen werden Pflicht. Das erste Mal, so heißt es aus dem Bundesfamilienministerium, würden rechtliche Rahmenbedingungen für die legale Prostitution geschaffen. Gefährliche Erscheinungsformen der Prostitution würden verdrängt, mit dem Gesetz die Grundrechte von Prostituierten auf sexuelle Selbstbestimmung, persönliche Freiheit, körperliche Unversehrtheit und auf Gleichbehandlung gestärkt.

Nur Anonymität schafft das nötige Vertrauen

Sonja und Madlen schütteln den Kopf: „Jeder Zwang führt die Frauen, die auf der Straße arbeiten, in die Illegalität. Wer in Hamburg nicht gemeldet ist, geht nicht zum Amt, um sich untersuchen zu lassen. Das bedeutet, dass die Gefahr, eine Infektion nicht behandeln zu lassen, erheblich steigt. Das sieht der Bochumer Präsident der Deutschen STI -Gesellschaft, Norbert Brockmeyer, ähnlich. Er warnt ausdrücklich vor Restriktionen für Sexarbeiterinnen. Er befürchtet, dass Zwangsmaßnahmen dramatische Zuwächse an Infektionen bedeuten können.

„Nimm immer ein Kondom, am Besten auch beim Blasen. Kommt Sperma in den Mund, spuck es aus. Spül den Mund auf, auf keinen Fall Zähne putzen. Ob jemand HIV hat, kannst Du nicht sehen. Jeder Deiner Sexpartner oder Kunden könnte es haben. Wegen HIV muss Du nicht aus Deutschland ausreisen.“ Eine Studie des Robert-Koch-Institutes hat zwar ergeben, dass Prostituierte keine höhere Gefahr laufen, sich mit dem HI-Virus zu infizieren. Das Risiko steigt jedoch, wenn sie erst seit kurzem der Prostitution nachgehen, Drogen nehmen oder Sex ohne Kondom praktizierten.

„Wir sind sehr darauf bedacht, den Frauen einen Ort zu bieten, wo eben niemand nach Namen, Geschichten oder sonstigen Informationen fragt. Wir treten an mit dem Versprechen, anonym zu arbeiten und keine Informationen weiterzugeben.“, sagt Sonja. Sie fragen Katarzyna deswegen auch nicht weiter aus und hoffen, dass sie wieder kommt.

Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz: Länderbehörden überlegen

Die Bundesländer müssen die Bestimmungen aus dem neuen Gesetz umsetzen. Doch mehr als erste Überlegungen gibt es bislang nicht. Auf eine Anfrage der CDU-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft antwortete die Sozialbehörde: „Mit Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beginnt … der fachliche Diskurs über die Umsetzung des Gesetzes sowie die Etablierung der dazu notwendigen Strukturen. … Dieser komplexe Abstimmungs- und Beteiligungsprozess wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Planungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen.“ Aus der Gesundheitsbehörde heißt es, dass ein Gesamtkonzept in Arbeit sei. Es „sollen sowohl Prostituierte mit guter sozialer Integration also auch solche in besonders prekären Lebenssituationen erreicht werden. Das Beratungsangebot sollte vertraulich und weitestgehend anonym sein…“ Bis heute wurden die Sozialarbeiterinnen von „Parati“ nicht in die Überlegungen der Behörden einbezogen.

Bereits bevor das Prostituiertenschutzgesetz verabschiedet wurde, war es heftig umstritten. ExpertInnen warnten eindringlich, dass es die Absicht, Menschenhandel zu bekämpfen und prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen zu beseitigen, nicht erfüllen wird. Eine Hauptursache für die Lebensbedingungen der Straßenprostituierten stand zum Beispiel überhaupt nicht zur Diskussion. „Würde sich die politische Position bezüglich einer Legalisierung von Drogen ändern und zu einer staatlich kontrollierten Abgabe und Preisgestaltung führen, könnte der Kauf von Drogen über andere Wege finanziert werden, da die immensen Profitspannen des illegalen Drogenhandels nicht mehr durch die EndverbraucherInnen verdient werden müssten.“, sagt Kathrin Schrader, Professorin für soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences die zu Drogenprostitution promovierte. „DrogenkonsumentInnen bräuchten sich dann nicht mehr aus einer wirtschaftlichen Notlage heraus auch noch zu den schlechtesten Bedingungen prostituieren.“ Ein Aspekt, den sich die nächste Bundesregierung auf die Agenda schreiben könnte.

*= Name geändert


Prostitution in Deutschland

Nach Domenica Niehoff wird in Hamburg bald eine Straße benannt. Das Grab der 2009 Verstorbenen liegt in der Gedenkstätte „Garten der Frauen“. Im Wachsfigurenkabinett „Panoptikum“ gibt es eine Nachbildung von ihr.

Ehren wie diese werden Prostituierten sonst nicht zuteil. Meistens arbeiten sie unter einem anderen Namen und leben prekär. Wie viele es sind, weiß niemand. Die Spannbreite bei den Schätzungen besteht zwischen 150.000 und einer halbe Million Menschen, 90 bis 95 Prozent sind Frauen, 60 bis 75 Prozent migrantisch.

Besonders Straßenprostituierte leben in Armut, oft ohne Meldeadresse und Krankenversicherung. Das Projekt „Parati“ (spanisch: für Dich) kümmert sich um diese Frauen. Seit sechs Jahren ist das siebenköpfige, multiprofessionelle und –kulturelle Team, das acht Sprachen anbietet und aus Krankenschwestern und Sozialpädagoginnen besteht, mit einem Bus in Hamburg unterwegs. In ihm werden Frauen beraten, sie erhalten Kondome, Gleitgele, neue Spritzen. „Parati“ wird aus dem „Mac Aids Fund“ finanziert, der zum US-Konzern Estée Lauder gehört. Eine Studie des Robert-Koch-Institutes hat zwar ergeben, dass Prostituierte keine höhere Gefahr laufen, sich mit dem HI-Virus zu infizieren und damit an Aids zu erkranken. Das Risiko steigt jedoch, wenn sie erst seit kurzem der Prostitution nachgehen, Drogen nehmen oder Sex ohne Kondom praktizierten.

Als Hauptursachen für die Spirale aus Gewalt, Krankheit, Sucht, Armut und Straßenprostitution gelten die Stigmatisierung der Betroffenen sowie das Betäubungsmittelgesetz. „Würde sich die politische Position bezüglich einer Legalisierung von Drogen ändern und zu einer staatlich kontrollierten Abgabe und Preisgestaltung führen, könnte der Kauf von Drogen über andere Wege finanziert werden. DrogenkonsumentInnen bräuchten sich dann nicht mehr aus einer wirtschaftlichen Notlage heraus auch noch zu den schlechtesten Bedingungen prostituieren.“, sagt die Frankfurter Professorin Kathrin Schrader, die zu Drogenprostitution promovierte.

Das neue Prostituiertenschutzgesetz, das am 1. Juli 2017 in Kraft treten wird, verpflichtet alle, die in der Prostitution arbeiten, zu Gesundheitsberatungen und sich zu registrieren. Dies könnte dazu führen, dass Straßenprostitutierte ohne Meldeadresse weiter in die Illegalität abrutschen. Die Bundes- aber auch die Länderregierungen haben bislang keine Konzepte vorgelegt, wie dieser Effekt verhindert werden kann.

Ein Gedanke zu „Der Ort, wo niemand fragt – Sozialarbeiterinnen bieten Hilfe“

  1. Vielen Dank für den differenzierenden Bericht. Eines jedoch könnte bei einem Grossteil der in der Branche tätigen Menschen übel aufstossen. Sie könnten aus dem Beitrag herauslesen, dass sie meist im Elend leben, den Job ausüben um ihre Drogensucht zu finanzieren und dass sie sich in einer Spirale aus Gewalt, Krankheit, Sucht, Armut und Straßenprostitution befänden. Das mag für die im Projekt Parati betreuten Menschen und für einige Bereiche in St.Georg der Fall sein. Aber persönliche Lebenssituation und die Gründe sich für diese Gelderwerbsquelle zu entscheiden sind so vielfältig wie Menschen vielfältig sind. Die Not in der Drogensucht ist nur eine davon. Es gibt, wie beschrieben, den Grund keine andere Möglichkeit zu sehen dem wirtschaftlichen Elend in den Herkunftsländern zu entgehen. Und es gibt den Grund welcher der gleiche ist wie der sich für den Beruf des Automechanikers, des Sozialarbeiters, der Politikerin oder der Kassiererin im Supermarkt zu entscheiden.
    Was alle Menschen eint, auch diejenigen, die sich nicht in der Zwangslage einer Drogensucht befinden: Die Stigmatisierung trifft alle. Und die Arbeitsmöglichkeiten werden durch das neue Gesetz erschwert, auf Grund der gesetzlichen Vorgaben wird es schwerer werden den Arbeitsplatz sicher zu gestalten.

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