Frau N. geht spazieren

Ein mit Blumen geschmücktes Fahrrad vor dem Altenheim.

Ich habe Frau N. im Altenheim besucht. Um mich zu erkundigen, wie es ihr geht. Letzte Nacht, als ich auf dem Weg von der S-Bahn nach Hause war, sah ich sie, ohne Jacke, mit Rock, nackten Beinen und dünnen Schuhen auf dem halbdunklen, nassgeregneten, Bürgersteig laufen. So, als sei sie ohne Ziel.

Ich war zunächst an ihr vorbei gegangen. War nicht sicher, ob und wie ich sie ansprechen sollte. Zog mein Gesicht noch tiefer in das Kunstfell meiner Kapuze, steckte meine handbeschuhten Hände in die Winterjackentaschen. Kalt war es und ich wollte schnell nach Hause, es war kurz vor Mitternacht. Außerdem befinden sich rund um Sternschanzen-Bahnhof oft Leute, die verwahrlost wirken. Und so signalisierte auch Frau N.  – von der ich zu diesem Zeitpunkt natürlich den Namen noch nicht wusste – keine Hilflosigkeit.

Ich überholte sie langsam und etwa zehn Meter weiter drehte ich mich um und beobachtete sie genauer. Außer mir und ihr war niemand auf dieser Seite der Straße, nur noch wenige Autos fuhren. Und nun fühlte es sich sehr falsch an, nicht auf sie zuzugehen, sie nicht anzusprechen. Ob sie noch einen weiten Weg habe, fragte ich. Sie blickte hoch, schaute mich an. Ihr Gesicht war sehr schmal, die Haare standen ungeordnet vom Kopf ab. Eine sehr alte Frau. Sehr zart. Frau N. geht spazieren weiterlesen

Der § 219a StGB steht auch in der juristischen Kritik

Kristina Hänel und Dörte Frank-Boegner (Vorsitzende pro familia Bund) ©keartus

veröffentlicht im pro familia Magazin 1/2020

siehe auch

Erneut musste sich das Landgericht Gießen mit der Strafsache Hänel befassen. Die Allgemeinmedizinerin war 2017 zu 6.000 Euro Strafe verurteilt worden, weil sie auf ihrer Website über Schwangerschaftsabbrüche in ihrer Praxis informiert. Denn das ist gemäß § 219a StGB verboten. Anlass des erneuten Termins war die Reform des § 219a StGB im Frühjahr 2019. Seitdem dürfen Ärzt*innen auf ihrer Website zwar bekannt geben, wenn sie Abbrüche durchführen – aber ohne jede weitere Information. Das OLG Frankfurt wies das Landgericht Gießen daher an, Kristina Hänels Informationsverhalten aufgrund der Reform neu zu bewerten.

Die Richterin äußerte sich einerseits kritisch: Die Reform des 219a haben zu mehr Unklarheiten geführt und sei zu schnell gestrickt worden. Es sei zu Fehlern dabei gekommen. Zuvor hatte Hänels Verteidiger dargelegt, dass der 219a keinen Fötus vor einer konkreten Gefährdung schützen würde, sondern nur abstrakt, was allerdings rechtsdogmatischer Unfug sei. Zudem würden ärztliche Berufsrechte verletzt und daher müsse das Bundesverfassungsgericht den 219a bewerten und das Landgericht die Sache direkt in Karlsruhe vorlegen. Da außerdem Europarecht berührt sei, könne das Verfahren auch ausgesetzt und zunächst eine Meinung des Europäischen Gerichtshof eingeholt werden. Richterin wie Staatsanwalt wollten sich allerdings nicht durchringen, den Vorschlägen der Verteidigung zu folgen, sondern lediglich den Straftatbestand überprüfen. Und so bestätigte die Kammer, dass Hänel gegen § 219a StGB verstoßen habe und senkte nur das Strafmaß auf 2.500 Euro ab. Der § 219a StGB steht auch in der juristischen Kritik weiterlesen

Rede am Holocaustgedenktag vor dem Meßberghof (Ballinhaus)

Weitere Redebeiträge sowie Fotos sind hier zu sehen.

Rede im Wortlaut:

Der Bauer Verlag, dem unter anderen der Meßberghof heute gehört, hat sich jetzt bereit erklärt, seinen Teil zur Aufarbeitung der Geschichte zu leisten.

Denn der frühere Verleger, Großvater der heutigen Verlegerin, war NSDAP-Mitglied und hat sich an jüdischem Eigentum bereichert wie er auch eine wichtige Rolle in der Strategie der Nazi-Propaganda gewesen war.

Ganz freiwillig hat er sich nicht zur Aufarbeitung bereit erklärt, erst die Medien mussten ihn an die Vergangenheit erinnern. Man hätte es dort gern vergessen, behauptet gar, keine Unterlagen mehr aus dieser Zeit zu besitzen. Aber das ist vorbei! Rede am Holocaustgedenktag vor dem Meßberghof (Ballinhaus) weiterlesen

Mein Verleger, der Nazi.

Frontansicht des Bauer-Verlagsgebäudes im Hamburger Kontorhausviertel
@keartus

Ich habe über 30 Jahre für den Bauer Verlag gearbeitet. Als kaufmännische und journalistische Auszubildende, Presse-Dokumentarin, Redakteurin. Und war immer wieder in Bauer-Betriebsräten engagiert. Ich kenne das Haus nahezu wie meine Westentasche – auch wenn ich die Unternehmerfamilie nie kennengelerent habe. Aber über die Kolleginnen und Kollegen, Stilllegungen, Rationalisierungen, Kündigungen, Sozialpläne und die damit immer verbundenen geschäftlichen Aktivitäten des Konzerns weiß ich ganz gut Bescheid – zumindest bis 2016, der Zeitpunkt, zu dem ich ausstieg. Über die Geschäftsaktivitäten zwischen 1933 bis 1945 lag immer ein dichter Nebel.

Weder auf der Firmenwebsite noch bei Wikipedia oder auf der Website des Hauses* der Pressefreiheit** finden sich bislang Hinweise auf diese Zeit. Bei der Unternehmenshistorie hört die Geschichte 1926 auf und fängt irgendwann wieder an – als wenn das Unternehmen aus einer langen, langen Starre, oder vielleicht auch aus dem Naziwinterschlaf, wieder erweckt wurde.

Und niemand hatte sich bislang die Mühe gemacht, nachzuforschen, wie das war bei dem Verlag, der mit vermeintlich unpolitischen, unterhaltenden Publikationen reich geworden ist. Sehr reich: Bauers gehören zu den reichsten Menschen Deutschlands. Sind also reich geworden mit Frauenpresse, der Bravo, Fernsehzeitschriften, Tratsch- und Klatsch-Postillen. Und Schmuddel wie Praline, Schlüsseloch, Wochenend und dem Edelschmuddel Playboy. Und offenbar mit Nazi-Ideologie.

Mein Verleger, der Nazi. weiterlesen

“Strafsache Hänel!”

©keartus

Ein Bericht vom Prozesstag, 12. Dezember 2019

„Strafsache Hänel!” Laut und streng ruft eine Justizangestellte durch den Flur des Landgerichts Gießen. Aber wir sitzen schon alle im Zuschauerraum. Alle, die an der Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude teilgenommen haben und jetzt den Verlauf des Prozesses gegen Kristina Hänel verfolgen wollen.

Erneut muss sie sich gegenüber dem Landgericht verantworten, weil das Oberlandesgericht Frankfurt ihre Sache zurück verwiesen hatte. Grund war die Reform des § 219a StGB, der einen Zusatz erhalten hatte. Seitdem dürfen Ärzt*innen, die Abtreibungen machen, dies auf ihrer Website bekannt geben. Das OLG Frankfurt war daher der Auffassung, dass das Verfahren von Kristina neu bewertet werden müsse. Und nun sitzen wir hier ein zweites Mal und harren der Dinge. Ich fasse hier den Prozesstag zusammen, die Wiedergabe ist keineswegs vollständig. Aber sie zeichnet meiner Meinung nach den Verlauf und die wesentlichen Argumentationsstränge nach. “Strafsache Hänel!” weiterlesen

Mein alljährlicher Weihnachtsblues

Grüffelo, Foto ©keartus

Diesem Grüffelo, den ich meinem Enkel vor ein paar Wochen geschenkt habe, mag Weihnachten nichts anhaben. Bei mir hingegen löst das Fest der Feste jedes Jahr Krisen aus. Ich weiß nur nie, wann genau. Und in welcher Intensität. Es kann beim Anschauen von Fotos passieren.  Bei einem Film. Bei irgend einer Szene in der U-Bahn, die ich mit erlebe. Oder auf einer Weihnachtsfeier. Spätestens ab 25. Dezember hänge ich dann vollends durch und muss alles, was nach Weihnachten aussieht, aus meinem Nahfeld entfernen. Der Baum, wenn ich einen aufgestellt habe, fliegt in der Regel nach dem 2. Weihnachtstag raus. Mein alljährlicher Weihnachtsblues weiterlesen

Vortrag: Frauenrechte sind Menschenrechte – der § 219a und die Folgen

Vortrag beim Festakt anlässlich des 40-jährigen Bestehehens des Medizinischen Zentrums pro familia Bremen

Liebe Anwesende,

zunächst überbringe ich eine Grußbotschaft, die wie folgt lautet: Liebe Pro Familia Bremen, vor ca. 30 Jahren wart Ihr unser großes Vorbild und Ihr habt mir u. a. einen respektvollen, korrekten Umgang mit den betroffenen Frauen beigebracht. Danke für Eure Arbeit! Diese Grußbotschaft stammt von twitter und geschrieben hat sie – Kristina Hänel. Ich möchte mich diesem Dank ausdrücklich anschließen.

Und ich finde es unglaublich toll, dass Ihr Euren Fachtag anlässlich des Jubiläums des Medizinisches Zentrums den Frauenrechten als Menschenrechte gewidmet habt. Denn darum geht es ja beim 219a: Das Recht jeder Frau, über sich und ihren Körper nach umfassenden, frei zugänglichen Informationen selbst entscheiden zu können. Vortrag: Frauenrechte sind Menschenrechte – der § 219a und die Folgen weiterlesen

Zu wenig Frauen in den Medien-Spitzen

veröffentlicht in M – Menschen machen Medien

Sitzen sie immer noch fest auf dem Pavianfelsen namens Chefredaktion, die Herren Chefredakteure? Oder kommen die Journalistinnen mittlerweile auch in angemessener Anzahl an die Spitze der Medien? Nein, offenbar nicht! Der Verein ProQuote Medien hat jetzt den zweiten Teil seiner Studie veröffentlicht, in dem die Geschlechterverteilung in journalistischen Führungspositionen untersucht wurde. Schwerpunkt der Untersuchung waren Presse und Onlinemedien.

Das Fazit vorweg: Es hat sich in den letzten drei Jahren nur wenig verändert. Fast überall herrscht Stillstand. Es gab sogar Rückschritte. Und es scheint auch, dass das Thema in Verlagen und Redaktionen noch nicht als gemeinsame Angelegenheit angekommen ist. Auf der gut besuchten Pressekonferenz, die am 7. November im Hause bei Gruner und Jahr am Baumwall in Hamburg stattfand, war keine Handvoll Männer zugegen. Zu wenig Frauen in den Medien-Spitzen weiterlesen

Die Versorgungssituation von ungewollt Schwangeren in Hamburg – Zeit zum Handeln!

veröffentlicht in pro familia Magazin 4/19

Hamburgs Bevölkerung wächst seit Jahren. Ob diese Entwicklung auch bei der Versorgung ungewollt Schwangerer Berücksichtigung findet, sollten zwei Anfragen herausfinden, die Grüne und Linke an den Senat gestellt haben.

Die Antworten zeigen, dass wichtige Informationen nicht vorliegen, um die Versorgungslage von ungewollt Schwangeren richtig einzuschätzen und für die Zukunft zu planen. Weder sind die gestiegenen Wartezeiten bekannt, die zwischen Beratungen und Abbrüchen liegen, noch werden die Versorgungssituationen in den benachbarten Bundesländern bewertet. Die Versorgungssituation von ungewollt Schwangeren in Hamburg – Zeit zum Handeln! weiterlesen