
Ich habe Frau N. im Altenheim besucht. Um mich zu erkundigen, wie es ihr geht. Letzte Nacht, als ich auf dem Weg von der S-Bahn nach Hause war, sah ich sie, ohne Jacke, mit Rock, nackten Beinen und dünnen Schuhen auf dem halbdunklen, nassgeregneten, Bürgersteig laufen. So, als sei sie ohne Ziel.
Ich war zunächst an ihr vorbei gegangen. War nicht sicher, ob und wie ich sie ansprechen sollte. Zog mein Gesicht noch tiefer in das Kunstfell meiner Kapuze, steckte meine handbeschuhten Hände in die Winterjackentaschen. Kalt war es und ich wollte schnell nach Hause, es war kurz vor Mitternacht. Außerdem befinden sich rund um Sternschanzen-Bahnhof oft Leute, die verwahrlost wirken. Und so signalisierte auch Frau N. – von der ich zu diesem Zeitpunkt natürlich den Namen noch nicht wusste – keine Hilflosigkeit.
Ich überholte sie langsam und etwa zehn Meter weiter drehte ich mich um und beobachtete sie genauer. Außer mir und ihr war niemand auf dieser Seite der Straße, nur noch wenige Autos fuhren. Und nun fühlte es sich sehr falsch an, nicht auf sie zuzugehen, sie nicht anzusprechen. Ob sie noch einen weiten Weg habe, fragte ich. Sie blickte hoch, schaute mich an. Ihr Gesicht war sehr schmal, die Haare standen ungeordnet vom Kopf ab. Eine sehr alte Frau. Sehr zart. Frau N. geht spazieren weiterlesen




Vortrag beim Festakt anlässlich des 40-jährigen Bestehehens des 
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